Ñāṇārāma Mahāthera.Die Sieben Betrachtungen - Kapitel 2
- Die Betrachtung des Leidens




1. Das Merkmal des Leidens
2. Die Enthüllung des Leidensmerkmals
3. Die Entfaltung und das Aufgeben
4. Sechs Vorteile der Betrachtung der Leidens
5. Anmerkungen zur Betrachtung des Leidens

Die Betrachtung des Leidens



(Dukkhānupassanā)


Einer, der die Betrachtung des Leidens entfaltet, gibt die Auffassung von Freude auf.

(Dukkhānupassanam bhāvento sukhasaññam pajahati.)

1. Das Merkmal des Leidens
In einer Debatte mit dem diskutierfreudigen Saccaka benutzte der Buddha die folgende Argumentationsweise, um ihn davon zu überzeugen, dass die fünf Anhäufungen leidhaft sind:

"Aggivessana, was denkst du, sind materielle Form, Gefühl, Wahrnehmung, geistige Gestaltungen und Bewusstsein beständig oder unbeständig?"

"Ehrwürdiger Gotama, sie sind unbeständig."

"Wenn etwas unbeständig ist, ist das angenehm oder leidvoll?"

"Ehrwürdiger Gotama, es ist leidvoll."1
Viele andere Lehrreden des Meisters sind in der selben Form gestaltet. Diesbezüglich sind die fünf Anhäufungen, eben weil sie unbeständig sind, notwendigerweise leidhaft. Dieses in den fünf Anhäufungen enthaltene Wesen des Leidens bezieht sich auf das Merkmal des Leidens (dukkha-lakkhana). Dieses Merkmal des Leidens ist nichts anderes, als Unterdrückung, Bedrängnis, Hemmung und Furchtbarkeit, herbeigeführt durch die ständige Entstehung und Auflösung der Anhäufungen2.

Das in den fünf Anhäufungen innewohnende Leiden ist genauso eine tägliche Erfahrung für uns, wie auch ihre Vergänglichkeit. Doch die Überzeugung bezüglich dieser Wahrheit entzieht sich uns, weil es uns misslingt, dieses Leiden als Leiden zu erkennen.Wenn wir für einige Zeit unbeweglich in einer Körperhaltung bleiben, oder in der sehr heißen Sonne stehen, oder eben ein einfaches Leiden wie Kopf- oder Zahnweh bekommen, erfahren wir Schmerzen und körperliches Leid. Normalerweise tun wir solche leidvollen Gefühle sofort als vorübergehend und zufällig ab, aber wenn wir das tun, können wir nicht verstehen, dass jede solche Erfahrung von körperlichem Schmerz eine unverkennbare Mahnung der Realität des immer anwesenden Leidens ist, welches auf der unbeständigen Natur der materiellen Form beruht. Wieviele Anlässe gibt es im täglichen Leben, wo körperliches Leiden in unser Blickfeld gebracht wird?

Kummer entsteht, wenn wir von geliebten und geschätzten Objekten getrennt sind. Wir werden ärgerlich, besorgt oder ängstlich, wenn die Objekte unserer Aufmerksamkeit unwillkommen sind. Kummer, Qual und Abneigung überwältigen uns, wenn unsere Erwartungen sich nicht erfüllen. So oft im Verlauf unseres Lebens erfahren wir Not wegen der unbeständigen Natur der Dinge. Dieser körperliche Schmerz und die psychische Not werden zusammen „eigentliches Leiden" (dukkha-dukkhatā) genannt, weil sie beide ihrer Bezeichnung und ihrer Natur nach leidvoll sind3.

Morgens nach dem Aufstehen wascht ihr euch euer Gesicht, putzt eure Zähne und rasiert euch vielleicht. Zwar seid ihr tagein, tagaus aus routinemäßiger Gewohnheit mit diesen Aktivitäten beschäftigt, aber habt ihr schon einmal daran gedacht, wie beschwerlich sie wirklich sind? Wenn ihr die Situation realistisch analysiert, werdet ihr erkennen, dass der ganze Vorgang nur ein Haufen Leiden ist. Es wäre tröstlich, wenn ihr den sauberen Zustand des Körpers nach dem Waschen erhalten könntet. Nun aber stellt euch die Menge der Mühe vor, die man ein ganzes Leben lang wegen der täglichen zwei- bis dreimaligen Wiederholung dieses Vorgangs auf sich nehmen muss. Ist nicht unser Leben voll von solchen wiederholten beschwerlichen Aktivitäten, die sich aus der ununterbrochenen Veränderung der Gestaltungen ergeben? Wenn jemand Schwierigkeiten beim Atmen bekommt, z.B. bei verstopfter Nase oder bei Bronchitis, kann er wahrnehmen, dass sogar die dauernde Ein- und Ausatmung mit Beschwerden verbunden ist. Können wir das Maß an Leiden abschätzen, das wir ein Leben lang in unserem Bestreben erfahren, die Erfordernisse für den Lebensunterhalt zu erlangen und zu sichern? Infolge des Auf- und Untergangs der Gestaltungen beinhaltet deren Pflege und Erhaltung viel Leiden, welches diesbezüglich als „zu den Gestaltungen gehörendes Leiden" (sankhāra-dukkha) bezeichnet wird.

Während des Lebens inmitten dieser Menge an Pein bleiben wir darin stecken, weil wir in der beständigen Hoffnung auf die angenehmen Gefühle leben, die wir gelegentlich genießen. Wir fühlen uns erfreut, wenn unsere Augen auf einen angenehmen Anblick treffen, wenn unsere Ohren eine süße Stimme hören, wenn unsere Nase einen angenehmen Duft einfängt, wenn unsere Zunge Leckeres schmeckt, wenn unser Körper angenehme Berührungen fühlt und wenn unser Geist erfreuliche Denkobjekte ersinnt4. Doch diese angenehmen Erfahrungen bleiben nicht ständig erhalten. Sie schwinden dahin, zusammen mit den angenehmen Objekten, aus denen sie hervorgingen. Dieser Verlust selbst ist Leiden. Wenn unser Wunsch nach Fortdauer dieser beglückenden Erfahrungen enttäuscht wird, entsteht Leiden. Dieser Leidensaspekt wird als "zur Veränderung gehörendes Leiden" (viparināma-dukkhatā) bezeichnet5. Wenn das erwünschte Glück so bald verlorengeht, sind wir getrieben, weiteres Leid zu erdulden, in dem Versuch, mehr und mehr dieses Glücks wiederzugewinnen.

Das Leben oder die Kontinuität der fünf Anhäufungen, nach der wir emsig als "Vergnügen" streben, ist in Wirklichkeit eine konstante Menge Leiden. Die in den himmlischen Bereichen oder den Brahma-Welten erlangte Seligkeit ist nur eine zeitweilige, teilweise Milderung dieser Pein, kein echtes Erreichen von Glück. Außerdem ist es für niemanden möglich, ewig im Himmel oder in den Brahma-Welten zu bleiben. In welche Seinsform man auch hineingeboren werden mag, solange man an seiner Erbschaft von Gestaltungen festhält, kann man dem Leiden nicht entrinnen, denn Leiden ist allen Gestaltungen innewohnend.



2. Die Enthüllung des Leidensmerkmals
Um sich die Universalität des Leidens zu vergegenwärtigen, hat man die Betrachtung des Leidens zu entfalten. Diese besteht im wiederholten weisen Beobachten des Merkmals des in den fünf Anhäufungen enthaltenen Leidens mit tiefer Konzentration. Durch das Sehen des Leidens in seiner wahren Perspektive wird die Wahrnehmung des Leidens (d.h. die Ansicht, dass "Gestaltungen nichts sind als ein Haufen Leiden") gut im Geist gefestigt6.

Der Hauptfaktor, der das Merkmal des Leidens vor unserem Geist verbirgt, ist die Angewohnheit, die Haltungen zu wechseln. Diese Gewohnheit zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich, besonders weil sie so alltäglich ist. Das sind die vier Haupthaltungen: Sitzen, Stehen, Gehen und Liegen. Wir verbringen jede Minute des Tages in der einen oder anderen dieser Haltungen. Wir nehmen bei jeder Aktivität die eine oder andere dieser Haltungen in Anspruch. Unser ganzes Leben ist eng mit ihnen verbunden. Die Ansicht: "Diese Haltungen bringen uns Bequemlichkeit" wurde in unseren Geist eingepflanzt. So wechseln wir promt in eine andere Haltung, um eine sofortige Erleichterung zu erzielen, wenn wir uns in der einen Haltung unbehaglich fühlen. Es gelingt uns nicht, zu erkennen, dass die Natur des Leidens in jeder Haltung enthalten ist. Um diese Bedrücktheit, die kontinuierlich durch den Auf- und Untergang der Phänomene erzeugt wird, vor uns selbst zu verbergen, umhüllen wir uns mit einem Kokon des Komforts durch den Haltungswechsel. überlegt nur, wie beiläufig wir unsere Haltung wieder anpassen, um den körperlichen und geistigen Stress zu lindern, der so eindringlich während unseres Wachzustandes auf uns einwirkt. So sollten wir verstehen, wie das in den fünf Anhäufungen innewohnende Leiden durch das spontane, gedankenlose Manipulieren der Haltungen verdunkelt wird.

Der Meditierende muss diesen Zustand gut begreifen: man sollte über den Fakt nachdenken, dass jede Haltung ein Behälter des Leidens ist. Man muss zu der Erkenntnis kommen, dass wir im Haltungswechsel Zuflucht suchen, nicht wegen des Vergnügens, sondern weil es zum Lebenserhalt eines physischen Körpers unvermeidlich ist. Weil das so ist, muss man beim Praktizieren von Einsichtsmeditation achtsam sein auf das in den Haltungen enthaltene Leiden. Wenn es nötig ist, die Haltung zu wechseln, sollte man dies mit totaler Achtsamkeit auf den Wechsel tun, im Bewusstsein, warum die Änderung vollzogen wird. Wenn wir mit diesem Verständnis arbeiten, werden wir nicht zu der Annahme verleitet, dass das Leiden mit der Haltungsänderung aufhört. Dadurch werden wir veranlasst, uns das Merkmal des Leidens zu vergegenwärtigen. Wenn der Auf- und Untergang der Phänomene offenbar wird, sollte darum der Meditierende, während er auf den sich ergebenden Stress vollkommen aufmerksam bleibt, nicht einmal geringfügig die Haltung ändern, um dem Stress zu entgehen. Dann wird er in der Lage sein, das Merkmal des Leidens wahrzunehmen7.

Es ist sachdienlich, die folgenden vier Faktoren zu beachten, die auch helfen, das Merkmal des Leidens zu enthüllen:

  1. Anstrengung und Qual sind immer wieder zu erdulden durch das dreifache Leiden: wirkliches Leiden, das zu den Gestaltungen gehörende Leiden und das Leiden durch Veränderung8.
  2. Unerträglicher Stress ergibt sich daraus.
  3. Die fünf Anhäufungen sind die Grundlage dieses dreifachen Leidens und all des Leidens des Samsāra, der anfangslosen Reise durch unzählige Leben.
  4. Gestaltungen sind ohne jegliche wahre Freude9

Vom Beginn des Meditierens bis zum Erreichen der Ruhe (passaddhi, d.h. körperliche und geistige Spannkraft) durch das gewählte Meditationsobjekt, wird der Meditierende verschiedene Arten körperlicher Schmerzen erfahren10. Zeitweilig wird er geistiger Anspannung begegnen. Dies allein wird ihn jedoch nicht befähigen, das Merkmal des Leidens zu durchschauen, bevor er noch nicht richtig das Merkmal der Unbeständigkeit durchschaut hat.

Die Reifung der Ruhe bringt Seligkeit (sukha) hervor, der die Konzentration nachfolgt11. Dies ist die Bedingung, die einen befähigt, die Einsicht in die Geistigkeit-Körperlichkeit (nāmarūpa-pariggaha) und die Einsicht in die Bedingtheit aller Phänomene (paccaya-pariggaha) zu erreichen.

Während man beobachtet, wie die in Ursache-Wirkung- Serien auftretenden psycho-physischen Phänomene gruppenweise zugrundegehen, vergegenwärtigt man sich zusammenfassend das Merkmal der Unbeständigkeit. Durch Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf die bedrückende schreckliche Natur der unbeständigen Phänomene realisiert man das Merkmal des Leidens auf umfassende Weise. Auf diese Weise wiederholt angewandte Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf das Merkmal des Leidens wird als die "Betrachtung des Leidens" (dukkhānupassanā) bezeichnet.

Auf dieser Anfangsstufe kann man das Merkmal des Leidens auf der Basis der Unbeständigkeit der Anhäufungen durch Unterteilung der fünf Anhäufungen in elf Gruppen nachweisen - Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, innere oder äußere, grobe oder feine, geringere oder vorzügliche, ferne oder nahe (siehe Kap. 1, Anm.14). So durchgeführt, ist die Betrachtung des Leidens hilfreich bei der Festigung des Verständniswissens (sammasana-ñāna). Wenn das Verständnis durch die Meditation in Gruppen Reife erreicht hat, wird die Unbeständigkeit in jedem unmittelbar erkannten Sinnesobjekt klar sichtbar. Es ist dann einfacher, das Merkmal des Leidens zu verstehen. Auf dieser Stufe beginnt das Wissen vom Auf- und Untergang (udayabbaya-ñāna) zu arbeiten. Lässt man sich aber von den Unreinheiten der Einsicht (vipassan´-upakkilesa) täuschen, wird die Betrachtung des Leidens geschwächt.

Wenn die Betrachtung der Unbeständigkeit stärker wird, entsteht das Auflösungswissen (bhanga-ñāna). Dieses Wissen macht die furchtbare Natur aller Gestaltungen, bezogen auf ihre unaufhörliche Auflösung, völlig klar und schärft damit die Betrachtung des Leidens. Diese Betrachtung leitet das Wissen vom Sichtbarwerden des Schreckens (bhayat´ upatthāna-ñāna) ein. Mit der weiteren Entfaltung der Betrachtung des Leidens erkennt man ganz klar die in dem Geistig-Materiellen enthaltenen Mängel und erreicht so das Wissen von der Gefahr (ādīnava-ñāna). Diesem folgt das Abwendungswissen (nibbidā-ñāna), welches zur Abwendung von den fünf Anhäufungen führt. Dieses Wissen stellt einen bedeutende Stufe im Fortschritt der Einsichtsmeditation dar, denn die Abwendung ist die Erfahrung, die den Meditierenden motiviert, ernsthaft nach der Realisierung des Nibbāna zu streben.

Auch in den folgenden Stufen der Meditation wird die Betrachtung des Leidens in verschiedenen Formen wirksam sein, dabei weiter die Serie der Einsichtswissen stärkend. Wenn die Betrachtung des Leidens im Stadium des Anpassungswissens (anuloma-ñāna) den Vorrang einnimmt, könnte sie auch eine Öffnung zum Nibbāna sein, durch das Tor der wunschlosen Befreiung (appanihita-vimokkha-mukha - siehe Kap. 1, Anm. 16).

Auf diese Weise spielt die Betrachtung des Leidens in Verbindung mit der Unbeständigkeit eine wesentliche Rolle in der erfolgreichen Vollendung der Einsichtsmeditation. Wir werden ihre verschiedenen Aspekte in späteren Kapiteln besprechen.



3. Die Entfaltung und das Aufgeben
Um einige im Begriff bhāvento (einer, der entfaltet) enthaltene Gedanken zu untersuchen, bezogen auf das Epigramm dieses Kapitels, wollen wir die folgenden Worte des Buddha betrachten:

"Hier, Mönche, lebt eine gewisse Person in Betrachtung des in allen Gestaltungen enthaltenen Leidens, es pausenlos und fehlerlos zu jeder Zeit erkennend und erlebend, ohne ihre Betrachtung mit anderen Gedanken zu vermengen; sie erhält sie im Geist aufrecht und vertieft sich darin mit Einsichtweisheit."12

Dieser Abschnitt entwirft ein für die Entfaltung aller Betrachtungen allgemein anwendbares Aktionsprogramm. Dieses kann so zusammengefasst werden:

  1. Man sollte die Betrachtung immer und pausenlos entwickeln.
  2. Der Gedanke, welcher den Gedanken der Betrachtung folgt, sollte ebenfalls einer der Betrachtung sein, übereinstimmend mit dem Vorangegangenen. Das heißt, man sollte nur Gedanken der Betrachtung entwickeln, und zwar ohne Versäumnis.
  3. Man sollte keine anderen Gedanken erzeugen als die der Betrachtung.
  4. Man sollte das Betrachtungsobjekt im Geist aufrechterhalten.
  5. Man sollte sich mit Weisheit in die Betrachtung vertiefen.

Diese meditativen Fertigkeiten können als eine stufenweise Serie von Schritten gesehen werden, von denen fortschreitend einer zum nächsten führt. Die erwähnte Lehrrede enthüllt ein äußerst erhabenes Niveau in der Entfaltung der Betrachtung. Diese Art von Praxis liefert eine Grundlage zur Erreichung der Wege zur Macht (iddhipāda), was bedeutet, dass die Anstrengung des Meditierenden doppelt erfolgreich ist13. Das wird durch den Fakt bekräftigt, dass diese Lehrrede sieben Methoden enthält, mit denen ein Einsichts-Meditierender noch in diesem Leben entweder Arahantschaft oder die Stufe des Nichtwiederkehrers (anāgāmitā) erreichen kann.

Durch die Entfaltung der Betrachtung des Leidens vergeht die Auffassung von Freude. Die Auffassung von Freude ist das Missverständnis oder die falsche Idee, dass die fünf Anhäufungen eine Quelle der Freude sind. Obwohl sie nur als eine Verzerrung der Wahrnehmung (saññā-vipallāsa) entsteht, sollte man verstehen, wie dieses Missverständnis durch wiederholte Bestätigung kräftiger werden und sich zu einer Bewusstseinsverzerrung (cittavipallāsa) und zu einer Verzerrung der Ansicht (ditthivipallāsa) entwickeln kann14. Beobachtet eine Weile, wie tief verwurzelt in unserem Geist die Idee ist, dass unsere Sinne und ihre Objekte - die Augen und die gesehenen Gestalten, die Ohren und die gehörten Töne, die Nase und die gerochenen Düfte, die Zunge und die erfahrenen Geschmäcke, der Körper und die durch ihn gefühlten Empfindungen, der Geist und seine Denkobjekte - alle eine Quelle der Freude sind. Obwohl wir tausende Male - nein, unzählige Male - Opfer verschiedener Krankheiten und damit verbundener Leiden werden, wie z.B. Stress, Verlust, Tadel, Enttäuschungen usw. - erscheint uns da jemals der Gedanke: "diese fünf Anhäufungen sind ihrer Natur nach leidhaft"? Getäuscht durch die schmerzlich falsche Ansicht: "Leiden und Unglück sind zufällig; diese Welt und dieses Leben sind im Wesentlichen erfreulich", tarnen wir gerade die heftigste Form des Leidens mit der Hoffnung auf einige voraussichtliche Freuden. Es ist der Intensität unserer Wahrnehmung von Freude zuzuschreiben, dass wir uns auf der Suche nach anhaltendem Glück in dieser Welt der Gestaltungen selbst quälen, so, wie ein durstiger Mann hitzig der Fata Morgana eines Gewässers nachläuft.

Wenn sich der Meditierende durch die Betrachtung des Leidens vergegenwärtigt, wie ausgedehnt die bedrückende und furchtbare, aus dem ständigen Entstehen und Vergehen hervorgehende Natur der Gestaltungen ist, und wenn er sich überlegt, wie das selbe Gesetz über alle drei Welten herrscht, dann entdeckt er, dass es nicht ein Jota Glück in ihnen zu holen gibt. Folglich gibt er die Auffassung von Freude in den fünf Anhäufungen auf - eine Auffassung, die während des anfangslosen Samsāra in seinem Geist vorherrschend war. Er vertauscht diese irreführende Auffassung gegen die rechte Auffassung des Leidens, die Anerkennung dessen, dass „die fünf Anhäufungen gewiss von Natur aus leidvoll sind".

Durch wiederholte Betrachtung des Leidens, das aus der in den fünf Anhäufungen enthaltenen Natur der Veränderung hervorgeht, gibt so der die Betrachtung des Leidens Entfaltende die Wahrnehmung, das Denken und die Ansicht auf, dass die fünf Anhäufungen freudvoll seien. Statt dessen lernt er, in ihnen nur eine Masse des Leidens zu sehen.

* * *



4. Die Vorteile der Betrachtung des Leidens
"O Mönche! Wenn ein Mönch sechs Vorteile beachtet, sollte das genügen, in ihm die Wahrnehmung des Leidens gegenüber allen Gestaltungen ausnahmslos zu festigen. Welche sechs?

  1. 'Gegenüber allen Gestaltungen wird in mir die Wahrnehmung der Abwendung gegenwärtig sein, wie gegenüber einem Mörder mit gezücktem Schwert.'
  2. 'Mein Geist wird aus allen drei Welten heraustreten.'
  3. 'Ich will ein Seher der Ruhe des Nibbāna sein.'
  4. 'Die zugrundeliegenden Tendenzen (anusaya) werde ich ausrotten.'
  5. 'Ich werde einer sein, der seine Pflicht tut (in Bezug auf die vier Pfade).'
  6. 'Ich werde dem Lehrer mit Hingabe gedient haben.'"15




5. ANMERKUNGEN ZUR BETRACHTUNG DES LEIDENS
1 M.I, 232.


2 Udayabbayaparipīëitattā. Vism.XVI,35. Siehe auch Vism.XXI,7.


3 Über die verschiedenen Einteilungen des Leidens siehe Vism.XVI,35.


4 Alle vom Geist erfassten Objekte, abgesehen von den Sinnesobjekten, werden gemeinsam als "Geistobjekte" oder "Denkobjekte" (dhammā-rammana) bezeichnet. Dies umfasst alle Gestaltungen, Nibbāna und alle Vorstellungen und Ideen (paññatti).


5 "Angenehme Gefühle werden als 'Leiden aufgrund der Veränderung' bezeichnet, weil sie eine Ursache für die Entstehung von Pein wegen ihrer veränderlichen Natur sind" (Vism.XVI,35).


6 In mehreren Lehrreden des Buddha ist die Betrachtung des Leidens als "Wahrnehmung des Leidens in der Unbeständigkeit" (anicce dukkha-saññā) angeführt: z.B. A.III,334, 452; IV,52; D.III,243, 251; S.V,132. Siehe auch DA.II,757; AA.II,665.


7 Siehe Vism.XXI,3, 4 und VismT.II,437.


8 In S.IV,259 sagt der Ehrwürdige Sāriputta: "Freund, es gibt diese drei Leidensformen, nämlich wirkliches Leiden (dukkhadukkhatā), von den Gestaltungen kommendes Leiden (sankhāra-dukkhatā) und von der Veränderung kommendes Leiden (viparināma-dukkhatā)." Vism.XVI,34 zählt noch vier weitere Leidensformen auf: verborgenes oder offensichtliches und direktes oder indirektes Leiden. Diese können auch im vorher erwähnten dreifachen Leiden enthalten sein.


9 "Aber weil entstandene Gestaltungen in der Gegenwart erschienen sind und, wenn sie gegenwärtig sind, vom Altern geplagt werden und beim Erscheinen des Alterns ans Auflösen gebunden sind, sind sie deshalb leidvoll wegen fortwährender Bedrängnis, wegen der Härte des Ertragens, weil sie die Grundlage des Leidens sind und wegen des Nichtvorhandenseins von Freude" (Vism.XX,47). Siehe auch MA.II,93.


10 Einige Meditierende ändern zeitweilig ihre Haltung oder richten ihren Körper wieder auf, um ihren Schmerz zu lindern. Diese Gewohnheit beraubt sie der Möglichkeit, die wahre Natur des Leidens zu realisieren. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Schmerzgefühl nur eine Gestaltung (sankhāra) ist und nichts, was man als "Ich" oder "Mein" ergreift, wird das subjektive Ergreifen von "Ich" und "Mein", das das schmerzvolle Gefühl mit sich zieht, gelockert. Dann erfährt man lediglich die Natur des Schmerzes. Durch Aushalten heftiger schmerzhafter Gefühle verstärkt man seine Konzentration. Wenn man über zwei Stunden ständig in einer Haltung ausharrt, unerschütterlich und mit auf dem Meditationsobjekt fixierter Aufmerksamkeit, verliert das Gefühl seine bedrückende Natur und die Konzentration wird stärker. In diesem Stadium kann die Einsichtsmeditation recht wirksam sein.


11 "Für ihn kommt Freude auf. Für den Freudigen kommt Entzücken auf. Für den mit Entzücken Erfüllten wird der Körper still. Ein im Körper Gestillter fühlt Glückseligkeit. Beim Glückseligen ist der Geist konzentriert" (A.III,21-24 usw.).


12 A.IV,14. Siehe auch AA.II,700.


13 Die vier iddhipāda, "Wege zur Macht" oder „Grundlagen für Erfolg"; enthalten in den siebenunddreißig Erfordernissen der Erleuchtung, sind: die Absicht (chanda), die geistigen Übungen fortzusetzen; Tatkraft (viriya) im Aufrechterhalten der ununterbrochenen Stetigkeit der Meditation; ein stets auf Meditation erpichtes Bewusstsein (citta); Erforschung (vīmamsā) oder aufrechterhaltene Untersuchung. Diese werden Wege zur Macht, wenn sie vom Beginn bis zum Ende der Meditation ununterbrochen angewandt werden. Durch Erfüllung der iddhipādas wird die Meditation vollkommen. Wenn wenigstens eine der vier ausreichend stark ist, werden die anderen auch zur Reife gelangen und die ersehnten Resultate einbringen.


14 A.II,52; Pm.II,80. Die Verzerrung der Ansichten (ditthi-vipallāsa) löst sich mit der Erreichung des Stromeintritts komplett auf (Pm.II,81), während die Verzerrungen der Wahrnehmung (saññā) und des Bewusstseins (citta) sich mit dem Erreichen der Arahantschaft auflösen (Vism.XXII,68).


15 A.III,443. Laut Kommentar (AA.II,695) dienen die noch Lernenden ihrem Meister in liebevoller Pflichtausübung (mettāvatāya); jene, die die Arahantschaft erreicht haben, haben den liebevollen Dienst an ihm erfüllt.



Ñāṇārāma Mahāthera. Die Sieben Betrachtungen der Einsicht. © Theravadanetz.