Ñāṇārāma Mahāthera.Die Sieben Betrachtungen
- Zwei Wahrheiten




Zwei Wahrheiten - Die herkömmliche und letztendliche Wahrheit



Wahrheit ist zweifach: herkömmliche Wahrheit (sammuti-sacca) und letztendliche Wahrheit (paramattha-sacca). Es gibt bestimmte Situationen und Objekte, die nach überlieferter Gewohnheit wahr sind, da sie nach den allgemeinen Kriterien wahr zu sein scheinen und die Verständigung einfacher machen. Diese werden dementsprechend als herkömmliche Wahrheiten oder als herkömmliche Wirklichkeiten bezeichnet. Wenn diese konventionellen Wirklichkeiten mit Weisheit analysiert werden, finden wir, dass sie nicht in der Weise existieren, wie man sie sich vorstellt. Während sie als reale, wirkliche Wesenheiten ersonnen werden, sind sie tatsächlich eher begriffliche Konstruktionen, die auf wirklich existierende Phänomene aufgesetzt werden. Diese wirklich existierenden Dinge werden absolute Wahrheiten oder letztendliche Wirklichkeiten genannt.

Betrachtet eure eigene Persönlichkeit. Ihr macht Gebrauch von dem Ausdruck "ich". Solche Alltagsphrasen wie "Ich gehe", "Ich erlebe", "Ich erkenne", "Ich tue", "Ich weiß" usw. schaffen den Eindruck, dass da ein reales unabhängiges "Ich" in einem existiert. Aber wenn dieses "ich" genannte Wesen untersucht wird, um sein wirkliches Wesen zu entdecken, ist alles, was wir finden, eine Kombination der fünf Anhäufungen - materielle Gestalt, Gefühl, Wahrnehmung, geistige Gestaltungen und Bewusstsein - welche ferner in Geist und Materie unterteilt sind. Was ist da unter all diesen Phänomenen der Existenz das, was man für ein reales "Ich" halten kann? Wenn der physische Körper weiter zerlegt wird in zweiunddreißig Teile - Kopfhaare, Körperhaare, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen usw. - kollabiert die konventionelle Vorstellung eines "Ich". Wenn diese materiellen Phänomene weiter mit Weisheit analysiert werden, wird zu erkennen sein, dass sie alle aus den Grundelementen zusammengesetzt sind: die hart-weiche, grobe Natur (= das Erd-Element; pathavī-dhātu); die verbindend-fließende, haftende Natur (= das Wasser-Element; āpo-dhātu); die heiß-kalte, verdauende Natur (= das Feuer-Element; tejo-dhātu); die aufrechterhaltend-mobile, ausdehnende Natur (= das Luft-Element; vāyo-dhātu) und die freie, leere Natur (= das Raum-Element; ākāsa-dhātu).

Der Geist ist auch eine reine Energieform, fähig, Objekte zu erkennen, somit ist er auch als ein Element klassifiziert, nämlich das "Bewusstseins-Element" (viññāna-dhātu). Dementsprechend ist "ich", obwohl auf der herkömmlichen Ebene akzeptiert, im letztendlichen Sinne nicht vorhanden. Was in Wirklichkeit vorgefunden wird, ist eine Verbindung von sechs Elementen, ohne jegliche Natur eines Wesens oder Individuums.

In Wirklichkeit durchdringen nur diese sechs Elemente der Festigkeit, Flüssigkeit, Hitze, Bewegung, des Raums und des Bewusstseins das ganze Universum. Diese sind keine Substanzen, sondern eher ständig wechselnde Energieformen auf der Grundlage einer Ursache-Wirkungs-Beziehung. Sie sind lediglich eine Fortsetzung bewegter Prozesse, so schnell entstehend und vergehend, dass ihre Umwandlungen nicht mit gewöhnlichen Mitteln wahrgenommen werden können.

Alle vermeintlich existierenden Gegebenheiten - sowohl bewusste als auch unbewusste - sind nur verschiedene Kombinationen dieser Elemente. Sie können nur in den Grenzen des Konventionellen als real betrachtet werden; das selbe gilt für die Bezeichnungen, die für ihre Identifikation akzeptiert werden. Folglich sind Begriffe wie Meer, Berg, Baum, Land, Haus, Bett, Stuhl, Kleidung, Leute, Götter, Tiere, "ich" und "du" neben den Dingen, die sie bezeichnen, eher Konzepte (paññatti) oder Konventionen (sammuti). Wenn Worte selbst nur Konventionen sind, folgt daraus, dass die Begriffe, welche die letztendlichen Wahrheiten identifizieren, ebenfalls lediglich Konventionen sind. Doch welche herkömmlichen Begriffe auch immer verwendet werden, um sie zu beschreiben, ihre Natur als letztendlicheRealitäten bleibt unberührt.

In und um uns sind immer die letztendlichen Realitäten wirksam, aber wir erkennen diese Wahrheit nicht wegen unserer Verblendung, avijjā oder Unwissenheit, welche ebenfalls eine letztendliche Realität ist und zum Bewusstseins-Element gehört. Durch das Akzeptieren von herkömmlichkeiten als letztendliche Wahrheit häufen wir mehr und mehr Leiden an.

Die verordnete Technik zur Beseitigung dieses Schleiers der Unwissenheit und zum Ans-Licht-Bringen der letztendlichen Wahrheit ist Einsichtsmeditation. Einsichtsmeditation beginnt mit einer herkömmlichen Realität als Objekt, wie z.B. Atemachtsamkeit, die zweiunddreißig Körperbestandteile oder das Heben und Senken der Bauchdecke. Wenn Achtsamkeit und Aufmerksamkeit des Meditierenden sich vertiefen, wird er die konventionelle Ebene übersteigen und direkt die letztendlichen Realitäten wahrnehmen. Durch wiederholte Betrachtung dieser letztendlichen Realitäten von verschiedenen Gesichtspunkten aus gewinnt der Meditierende Einsicht in die wahre Natur der bedingten Welt. Durch diese Einsicht rottet er die Neigung zur Welt aus und realisiert die überweltliche letztendliche Realität, Nibbāna, und erlangt dabei Befreiung vom Leiden.

Die weltlichen absoluten Realitäten, hier als die sechs Elemente erwähnt, müssen durch persönliches Erleben verstanden werden wie sie wirklich sind. Trotzdem können sie bis zu einem bestimmten Punkt auch verbal beschrieben werden, wenn auch unzulänglich. Im Gegensatz dazu widersteht die überweltliche absolute Realität, Nibbāna, allen Versuchen einer verbalen Beschreibung, denn es ist jenseits aller weltlichen Maßstäbe, Konventionen und Beschreibungen, wie z.B. Raum und Zeit. Nibbāna kann jedoch direkt wahrgenommen werden durch intuitive Weisheit, welche durch die Erfüllung des Erleuchtungspfades entsteht.

In unseren täglichen Aktivitäten haben wir auf die Herkömmlichkeiten zurückzugreifen, aber es ist gut, sich daran zu erinnern, dass dies nicht die letztendliche Wahrheit ist.



Ñāṇārāma Mahāthera. Die Sieben Betrachtungen der Einsicht. © Theravadanetz.