1. Was ist sati?
2. sati als geistige Weite und Offenheit
3. sati als Schutzfunktion
4. sati als Grundlage für die Entwicklung von Weisheit
5. sati und geistige Sammlung (samādhi)

Venerable Analayo. Was ist sāti?

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1. Was ist sati?
sati wird im Deutschen oft mit "Achtsamkeit" oder "Aufmerksamkeit" übersetzt, im Englischen findet man zumeist "mindfulness" oder "awareness" als Übersetzungen. Als Pali Wort ist sati mit dem Verb sarati verwandt, welches „sich erinnern" bedeutet. Dieser Beziehung zwischen sati und der Erinnerung ist in den Lehrreden durch den ehrwürdigen Ananda personifiziert, den der Buddha wegen seiner sati als herausragenden Mönchen lobte (A I 24/ A 1:14). Derselbe Ananda war es, laut der Überlieferung im Vinaya, der sich an all die verschiedenen Lehrreden des Buddha erinnerte und dadurch deren Überlieferung bis auf den heutigen Tag erst ermöglichte (Vin II 287 und Thag 1024). Ebenso spricht auch die formale Definition von sati in den Lehrreden von Erinnerung (z.B. M I 356/ M 53). Diese Definition setzt allerdings nicht sati mit der Erinnerung an sich gleich. Sie deutet vielmehr an, dass wer sati hat, sich gut an Vergangenes erinnern kann. D.h. wer aufmerksam und achtsam ist wird das, was sich in diesem Moment abspielt, voll aufnehmen können und darum auch später in der Lage sein, sich an diesen vergangenen Moment zu erinnern. sati ist jedoch nicht nur notwendig in dem Augenblick, in dem etwas geschieht, an das man sich erinnern möchte, sondern auch für den Moment, in dem man versucht, sich zu erinnern. Dieser Moment ist durch eine gewisse geistige Weite gekennzeichnet. Aufgrund dieser Weite ist unser Geist in der Lage, Sinneswahrnehmungen aus der Gegenwart mit Informationen aus der Vergangenheit in Beziehung zu bringen und sich dadurch zu "erinnern". Diese Qualität geistiger Weite ist uns allen vertraut aus Situationen, in denen wir uns unbedingt an etwas Bestimmtes erinnern wollen, es uns aber einfach nicht einfällt. Je mehr wir uns anstrengen, umso weniger sind wir in der Lage, uns daran zu erinnern. Wenn wir dann aber die ganze Angelegenheit etwas ruhen lassen, und unser Geist in einen Zustand entspannter Offenheit und Weite gelangt, fällt uns auf einmal wie von selbst die gesuchte Information ein.

2. sati als geistige Weite und Offenheit
Das geistige Weite und Offenheit in einem engen Zusammenhang mit sati stehen, wird auch von den Lehrreden bestätigt, die einen Geist ohne sati als "eng" (parittacetasa) bezeichnen, während die Gegenwart von sati einen "weiten" Geisteszustand (appamāṇacetasa) hervorbringt (S IV 119/ S 35:132)
Ähnliches findet sich auch in einem Gleichnis der Mittleren Sammlung der Lehrreden, welches die Situation eines Kuhhirten beschreibt (M I 117/ M 19). Zuerst war dieser Kuhhirte vollauf damit beschäftigt, seine Kühe davon abzuhalten, in das reifende Korn zu laufen und es zu fressen. Als dann aber das Korn abgeerntet war, musste er sich nicht mehr mühen, sondern konnte sich entspannt an einen Baum lehnen und die Kühe aus der Ferne beobachten. Diese Situation des entspannten, aus der Ferne Beobachtens wird in der genannten Lehrrede unter der Verwendung des Wortes sati beschrieben. Das Beobachten aus der Ferne kommt auch in einem Bild in den Versen der Erleuchteten Mönche vor, welche sātipaṭṭhāna, die meditative Entwicklung und Präsenz von sāti, mit der durch den Aufstieg auf einen Turm erlangten Aussicht vergleichen (Thag 765). In einem weiteren Gleichnis wird sati mit einem sorgfältigen Wagenlenker verglichen, ein Bild, welches vor allem den durch sati gewonnenen guten Überblick über eine Situation verdeutlicht (S V 6/ S 45:4). Diese Gleichnisse aus den Lehrreden verweisen auf die geistige Weite und Offenheit, die im Geist durch sati entstehen kann und die es ermöglicht, den Überblick über die momentane Situation zu erlangen und zu bewahren. Dieselbe Funktion hat sati dann auch in Bezug auf die Meditation. Durch sati behalten wir den Überblick und sind in der Lage, uns an das zu erinnern, was wir sonst nur zu schnell vergessen: im gegenwärtigen Moment zu sein.

3. sati als Schutzfunktion
Wer im gegenwärtigen Moment wach und aufmerksam ist, der wird auch nicht so leicht von unheilsamen Dingen überwältigt. Diese Schutzfunktion von sati ist besonders relevant in Bezug auf indriya saṃvara, die Zügelung der Sinne.
Ohne sati unterliegt man nur zu leicht den Impulsen der Sinne, wo das Anregende verlockt und das Abstosende zuwider ist. Durch sati lernt man einfach nur achtsam auf das zu sein, was wirklich da ist, ohne gleich in Werturteile und Reaktionen zu verfallen. Dieser Aspekt von sati wird in einem Gleichnis in den Lehrreden durch einen Torwächter personifiziert (A IV 110/ A 7: 63). Ebenso wie die Anwesenheit des Torwächters an den Stadttoren verhindert, dass Feinde unbemerkt eindringen können, so verhindert die Anwesenheit von sati das unbemerkte Entstehen von geistig unheilsamen Ideen und Reaktionen an den Sinnestoren.
Solche Schutzfunktion kann besonders durch die Entwicklung von körperlicher Aufmerksamkeit, von kāyagatāsāti, entwickelt werden. Wem es gelingt, seine körperlichen Aktivitäten mit voller Aufmerksamkeit auszuführen, der hat auf diese Weise einen geistigen Anker im Körper gefunden, eine wichtige Voraussetzung für formale Sitzmeditation.
Die Verankerung durch die auf den eigenen Körper gerichtete Aufmerksamkeit wird in den Lehrreden mit einem starken Pfahl verglichen, an den sechs verschiedene wilde Tiere angebunden sind (S IV 198/ S 35:206). Wie sehr auch jedes dieser Tiere ziehen mag, um in die eine oder andere Richtung zu fliehen, der Pfahl bleibt fest stehen. Früher oder später werden dann die Tiere von selbst müde werden und sich in der Nähe des Pfahles hinlegen. Ebenso werden früher oder später die unheilsamen Tendenzen der sinnlichen Ablenkung "müde" werden, solange nur der Pfahl sati fest stehen bleibt.

4. sati als Grundlage für die Entwicklung von Weisheit
sati hat aber nicht nur eine schützende Funktion, sondern bildet auch die Grundlage für die Entwicklung von Weisheit (paññā). Hier ist insbesondere die meditative Entwicklung von sati durch sātipaṭṭhāna von Bedeutung, in der die Aufmerksamkeit systematisch verschiedene Aspekte des Körperlichen, der Gefühle und des Geistes erfasst, sowie zentrale Aspekte des Dhamma in der direkten eigenen Erfahrung anwendet.
Dabei geht es besonders um das unverfälschte Sehen der Dinge, wie sie wirklich sind, in ihrer Bedingtheit und ihrer Unbeständigkeit. Zentral bei der Praxis des sātipaṭṭhāna ist das klare Beobachten. Interessanterweise sind selbst geistige Hindernisse wie Sinneslust (kāmacchanda) und Übelwollen (vyāpāda) als sātipaṭṭhāna-Übung zuerst einmal nur klar zu beobachten. Zuerst ist ihre Gegenwart oder Abwesenheit zu erkennen.
Dann untersucht man, wie sie entstanden sind, wie sie zu überwinden sind, und wie ihr zukünftiges Entstehen verhindert werden kann. Erst nachdem dieses Verständnis gewonnen ist, können aktive Gegenmethoden sinnvoll angewendet werden. Für diesen ersten Schritt des klaren Beobachtens ist die geistige Aufnahmefähigkeit durch sati von zentraler Bedeutung.
sati bleibt losgelöst und distanziert, eben ein Zuschauer. Ohne gleich zu reagieren, wird das Erfahrene durch diese innere Distanz in viel umfangreicherer Form aufgenommen als dies normalerweise der Fall ist. Das momentane Erlebnis wird darum auch durch sati nicht eigentlich verändert, sondern eher vertieft. Das verweilende aufmerksame Beobachten durch sati gibt der Erfahrung Tiefe und Klarheit.
Diese geistige Aufnahmefähigkeit und Empfangsbereitschaft durch sati ermöglicht es, die Motive hinter unseren Reaktionen und Verhaltensweisen in das volle Bewusstsein zu bringen. Sobald wir aber reagieren, sind wir auch beteiligt, und damit ist die innere Distanz und auch diese Erkenntnismöglichkeit verloren gegangen. Stattdessen ist es die nicht immer leichte Aufgabe des sātipaṭṭhāna-Praktizierenden, innerlich von der Situation zurückzutreten und sich selbst so zu beobachten, als wenn er ein ausenstehender Zuschauer wäre.
Solche Selbstbeobachtung durch sātipaññhāna ist laut den Lehrreden ein Mittelweg, denn sie vermeidet beide Extreme (A3 I 295/ A 3:151): sowohl die Tendenz, den sinnlichen Begierden nachzugeben, als auch die entgegengesetzte Tendenz, sie zu unterdrücken. Durch sati ist man in der Lage, die Situation zu "halten", ohne zu kapitulieren oder sofort mit Abwehr zu reagieren.

Dieser Mittelweg des sātipaṭṭhāna hat das Potenzial die Konditionierung des Geistes allmählich aufzulösen. Auf diese Weise wird es möglich, unsere gewohnheitsmäsigen Reaktionen und Verhaltensweisen zu ändern. Nur zu oft laufen Reaktionsmuster ab, ohne von unserem Bewusstsein voll wahrgenommen zu werden. Schon in den ersten Momenten der Wahrnehmung entstehen unbewusst leicht Vorstellungen oder sogar Vorurteile, und schon reagieren wir. Die Entfaltung von sātipaṭṭhāna hingegen gibt uns eine geistige Ruhepause, ein geistiges Luftholen sozusagen, während der es möglich wird, das Wahrgenommene genauer in Augenschein zu nehmen. Auf diese Weise kann man sich der während der Wahrnehmung durch die eigenen Vorstellungen und Vorurteile projizierten Bewertungen bewusst werden.
Durch die systematische Entwicklung dieses sātipaṭṭhāna-Mittelweges wird sati dann zu einem bojjhaṅga, zu einem geistigen Faktor, der zum Erwachen führt. Insgesamt gibt es sieben dieser geistigen Faktoren, die zum Erwachen führen, und sati steht hier an erster Stelle. Nicht umsonst hat sati diese Position, denn ohne sati ist das Erwachen nicht möglich.
Diese wichtige Funktion des sati in der Entwicklung meditativer Weisheit klingt in einem Vers des Sutta Nipāta an, laut dem sati die Ströme (des Begehrens) in dieser Welt zurückhält, so dass sie dann von der Weisheit zum Versiegen gebracht werden können (Sn 1035). Ein anderes Gleichnis in der Mittleren Sammlung vergleicht sati mit der Sonde eines Chirurgen (M II 260/ M 105). Ebenso wie der Chirurg mit Hilfe der Sonde die Wunde genauer untersuchen kann und dadurch die notwendige Information für die Operation gewinnt, ebenso kann der Meditierende durch die Sonde sati die notwendige Information für die Entwicklung von Weisheit gewinnen. Die vorbereitende Funktion von sati für das Erwachen ist in einem anderen Gleichnis im Sutta Nipāta mit der Pflugschar und dem Treibstock eines pflügenden Bauern verglichen (Sn 77 und auch S I 172/ S 7:11). Ebenso wie der Bauer zuerst pflügen muss, um dann säen und später ernten zu können, ebenso muss zuerst sati entwickelt werden, wenn man die Frucht des Erwachen ernten möchte.

5. sati und geistige Sammlung(samādhi)
sati ist jedoch nicht nur wichtig für die Entwicklung von Weisheit, sondern auch für die geistige Sammlung (samādhi), die ja ihrerseits für die Entwicklung von Weisheit und Einsicht von zentraler Bedeutung ist. Die Kultivierung von sati ist eine notwendige Vorraussetzung, um die meditativen Vertiefungen (jhāna) erreichen zu können. Eine Rede aus der Mittleren Sammlung beschreibt, wie der ehrwürdige Sāriputta eine detaillierte Analyse der verschiedenen Vertiefungen unternahm. Diese Lehrrede zeigt klar, dass sati in jeder der vier Vertiefungen vorhanden ist (M III 25/ M 111).Ebenso wird in den Standardbeschreibungen der dritten und vierten Vertiefung in den Lehrreden sati stets erwähnt. Daher ist es kaum verwunderlich, dass der ehrwürdige Anuruddha seine herausragenden konzentrativen Fähigkeiten ausdrücklich auf seine regelmäsige Praxis von sātipaṭṭhāna zurückführte (S V 294/ S 52:1).

Obwohl also eindeutig sati eine wichtige Funktion für die Entwicklung der meditativen Vertiefungen (jhāna) und der geistige Sammlung (samādhi) erfüllt, so sind doch die charakteristischen Funktionen der geistigen Qualitäten sati und samādhi an sich unterschiedlich. Samādhi, die geistige Sammlung oder Konzentration, ist eine Verstärkung der selektiven Geistesfunktionen, eine "Sammlung" und damit aber auch Einschränkung des Erlebten. sati hingegen ist, für sich allein betrachtet, ein breit gefächertes Aufnehmen des Erlebten. In der Welt der Fotografie würde sati einem Weitwinkelobjektiv entsprechen, während samādhi einem Teleobjektiv gleichzusetzen wäre. Dieser Unterschied bedeutet natürlich nicht, dass diese beiden nicht miteinander vereinbar wären, denn beide sind in den Vertiefungen vorhanden. In den Vertiefungen verliert sati aber bis zu einem gewissen Grad seine natürliche Breite, aufgrund des durch samādhi entstandenen starken Fokus.

Der Unterschied zwischen diesen beiden geistigen Qualitäten lässt sich gut mit Hilfe einer Lehrrede aus der Gruppierten Sammlung illustrieren (S V 156/ S 47:10). In dieser Lehrrede empfahl der Buddha jemandem, der während der Praxis des sātipaṭṭhāna mit Trägheit oder Ablenkung konfrontiert war, zeitweise seine Meditation zu ändern und die Gemütsruhe (samatha)anstelle des Klarblicks (vipassanā) zu praktizieren, um dadurch innere Freude zu entwickeln. Solche Entfaltung der Gemütsruhe, bei der es vorwiegend um die Entwicklung von samādhi geht, bezeichnete der Buddha als "gerichtete" Meditation (paṇidhāya bhāvanā). Sobald sich aber auf diese Weise der Geist gesammelt hat und innere Freude entwickelt wurde, so der Buddha, solle man zur Praxis des sātipaṭṭhāna zurückkehren, und damit zu einer „nicht gerichteten" Meditation (apaṇidhāya bhāvanā). Der Unterschied, der in dieser Lehrrede zwischen "gerichteter" und "ungerichteter" Meditation gemacht wird zeigt, dass es zwei an sich unterschiedliche Formen der Meditationspraxis gibt, die auf dem prinzipiellen Unterschied der beiden geistigen Qualitäten sati und samādhi beruht.

Auf der anderen Seite aber ist es gerade das Thema dieser Lehrrede, wie diese beiden Meditationsformen geschickt miteinander kombiniert werden können. Dies zeigt eindeutig, dass beide zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen können, was immer auch die individuellen Unterschiede sein mögen. Die charakteristische Qualität von samādhi ist es, den Geist zu richten und zu sammeln, ihn auf ein einziges Objekt auszurichten und alles andere auszuschliesen. Auf diese Weise führt die Entwicklung von samādhi über die Vertiefungen (jhāna) zu einer Verlagerung von der alltäglich erfahrenen Dualität einer von Subjekt und Objekt geprägten Welt zu einer Erfahrung von allumfassender Einheit. Das Erlangen und Verweilen in den Vertiefungen schliest aber das weiträumigere Wahrnehmen von verschiedenen Aspekten der Situation aus und damit das Wahrnehmen ihrer bedingten Beziehungen und ihrer Veränderung im Zeitablauf. Es ist aber gerade dieses Wahrnehmen der Bedingtheit und Vergänglichkeit, welches zu einer immer tieferen Einsicht in die wahre Natur unserer Existenz führt und damit zum Erwachen. Für dieses Wahrnehmen ist die weiträumige Empfänglichkeit von sati essentiell. Aus diesem Grund ist selbst die tiefste Vertiefung, so erhaben und geläutert der Geist auch durch sie geworden sein mag, in sich nicht genügend, um den Durchbruch zur Erfahrung des Höchsten zu erlangen, zur Erfahrung des Nibbāna.

Abkürzungen:
A Aṅguttara Nikāya
M Majjhima Nikāya
S Saṃyutta Nikāya
Sn Sutta Nipāta
Thag Theragāthā
Vin Vinaya