Ñāṇārāma Mahāthera.Die Sieben Betrachtungen - Kapitel 7
- Die Betrachtung des Loslassens




1. Zwei Arten des Loslassens
2. Der sich entfaltende Prozess des Loslassens
3. Befreiung vom Ergreifen
4. Die Vortreile der Betrachtung des Aufhörens
5. Anmerkungen zur Betrachtung des Aufhörens

Die Betrachtung des Loslassens



(Patinissaggānupassanā)

Einer, der die Betrachtung des Loslassens entfaltet, gibt die Habsucht auf.

(Patinissaggānupassanam bhāvento ādānam pajahati.)

1. Zwei Arten des Loslassens
In den Texten sind zwei Bedeutungen für den Begriff patinissagga1, "Loslassen", angegeben: (I) Aufgeben (pariccāga) und (II) Hineingehen (pakkhandana2. Der wichtigere von beiden ist die Idee vom "Aufgeben", welcher den Sinn von "Entsagen" oder "allmählich Abfallen" beinhaltet.3 Dementsprechend kann nach dem Zeugnis der Analyse des Loslassens im Kapitel "Atemachtsamkeit" des Patisambhidāmagga gefolgert werden, dass Loslassen durch Entsagen (pariccāga-patinissagga) das "allmähliche Abfallen" oder Entsagen gegenüber der Gesamtheit der Gestaltungen bezeichnet, welche unterschiedlich eingeteilt sind in Anhäufungen, Elemente, Sinnesbereiche, Fähigkeiten, Werdensbereiche, Jhānas, Faktoren des bedingten Entstehens usw.4

Die folgende Lehrrede des Buddha klärt, wie Entsagen im Sinne von Aufgeben auf die gesamte Skala der Gestaltungen ausgedehnt werden sollte:

"Mönche, alles sollte aufgegeben werden. Und was ist das alles, was aufgegeben werden sollte? Das Auge sollte aufgegeben werden. Ebenso die sichtbaren Formen, das Augenbewusstsein, der Augenkontakt und alle durch solchen Kontakt erzeugten Gefühle - ob angenehm, schmerzlich oder neutral - all dies sollte aufgegeben werden."5

Der Buddha gebrauchte dann die selbe Formel für das Ohr, die Nase, die Zunge, den Körper und den Geist.

Das aus Betrachtung hervorgegangene Wissen beseitigt durch Enthüllung der wahren Natur der Gestaltungen die Unwissenheit. Als ein Ergebnis davon schwindet mittels Ersetzen durch das Gegenteil die Leidenschaft, Sehnsucht oder Begierde, die einen zwingt, die Gestaltungen als "Ich" und "Mein" zu ergreifen. Dies bahnt den Weg für das Aufgeben aller Gestaltungen im gegenwärtigen Moment durch Ersetzen durch das Gegenteil.6

Das im Laufe der Einsichtsmeditation erzielte Aufgeben der momentan sich ereignenden Gestaltungen erreicht seinen Höhepunkt mit dem totalen und andauernden Loslassens der Gestaltungen bei der Errungenschaft des überweltlichen Pfades. Wenn der überweltliche Pfad erreicht ist, vergehen alle Gestaltungen als Erkenntnisobjekte und der Geist durchdringt direkt den unbedingten Zustand, das Nibbāna. Hier werden durch Ausrottung die zum jeweiligen Pfad gehörenden Unreinheiten und das jeweilige Kamma, welches sie erzeugen würden, zusammen mit den Anhäufungen, die sie in der Zukunft produzieren würden, alle aufgegeben. Aus diesem Grund wird der überweltliche Pfad auch angeführt als "Loslassen durch Aufgeben" (pariccāga-patinissagga).7

Die andere durch den Begriff patinissagga ausgedrückte Bedeutung ist "eintreten", "sich hineinstürzen" oder "darin versinken". Das ist das Eintreten des Geistes ins Nibbāna, das als "Loslassen (der Gestaltungen) durch Versenkung" erwähnt wird.8

Der Akt des "Loslassens durch Eintreten" wird in den selben zwei Stufen wirksam: Einsicht und überweltlicher Pfad. Wenn der Meditierende mit Einsichtswissen die in den Gestaltungen enthaltenen Gefahren erkennt, neigt sich sein Geist zum Nibbāna als einem Zustand, der frei von solchen gefährlichen Gestaltungen ist; dies ist das "Loslassen durch Hineingehen", das auf der Ebene der Einsicht wirksam wird. Dann, im Stadium des überweltlichen Pfades, lässt man alle Gestaltungen los durch tatsächliche volle Versenkung des Geistes im Nibbāna; so wurde auch der überweltliche Pfad als "Loslassen durch Hineingehen"9 definiert.

Das wiederholte Entfalten der Einsichtserkenntnis für die Kultivierung der zwei Aspekte des Loslassens - dem Aufgeben der Gestaltungen und dem Hineingehen ins Nibbāna - kennzeichnet die Betrachtung des Loslassens.10

Dieses "Aufgeben" und dieses "Versenken", welche zur Betrachtung des Loslassens gehören, können tatsächlich als zwei Aspekte der selben Erreichung angesehen werden. Gleichzeitig mit dem Aufgeben der Befleckungen und anderer Gestaltungen wird der Geist zum Nibbāna hinorientiert; diese Orientierung wird zunehmend offenbar in den höheren Stadien der Einsichtsmeditation. Im Stadium des überweltlichen Pfades geschehen diese beiden Ereignisse im selben Augenblick: in genau dem selben Moment, in dem der Geist Nibbāna als unmittelbares Objekt nimmt und ins Nibbāna eintritt, sind die durch diesen Pfad auszurottenden Befleckungen und die Gestaltungen, die durch jene Befleckungen hervorgerufen werden können, für immer aufgegeben. So kann behauptet werden, dass Loslassen, obwohl in der Theorie zweifach, in der direkten Erfahrung eine Einheit ist.

Aufgeben ist tatsächlich die Essenz der Einsichtsmeditation, dem ganzen meditativen Weg zugrundeliegend und ihn einschließend. Loslassen beginnt anfänglich auf einer niederen Ebene und wird allmählich stärker, bis er einen solch hohen Grad erreicht, dass er einem die enorme Kraft gibt, die für das Aufgeben der Befleckungen und Gestaltungen in ihrer Gesamtheit erforderlich ist.




2. Der sich entfaltende Prozess des Loslassens
Die erste wichtige Aufgabe des Meditierenden, der ein Objekt der reinen Einsichtsmeditation erschließt, ist die Beseitigung der Hemmungen (nīvarana): dies ist ein Aufgeben von Befleckungen. Nach deren Beseitigung, wenn der Geist des Meditierenden voll konzentriert wird, dämmert das Wissen von der Abgrenzung von Geist und Materie (nāma-rūpapariccheda-ñāna) herauf und schwächt damit die gewohnte Auffassung von einem Selbst. Mit der vollkommenen Reifung dieses Wissens realisiert man, dass man die ganze Zeit einer ungeheuerlichen Täuschung unterworfen war: der Täuschung, ein bloßes Bündel geistiger und materieller Phänomene als "Ich" und "Mein" zu betrachten. Dies bereitet das Fundament für das Aufgeben der Gestaltungen vor. Der starke Griff nach Gestaltungen wird gelockert.

Darauf folgt das erfolgreiche Erreichen des Wissens bezüglich der Einsicht in die Bedingungen (paccaya-pariggaha-ñāna). Hier wird die Habsucht nach Gestaltungen noch weiter vermindert durch Bekräftigung des Faktes, dass es kein den Prozess von Geist und Materie kontrollierendes oder beherrschendes "Ich" gibt. Man erkennt, dass der ganze Erlebnisprozess als eine kontinuierliche Serie von bedingt miteinander in Beziehung stehenden Ursachen und Wirkungen abläuft. Dieses Vergegenwärtigen gibt Antrieb für das Aufgeben der Gestaltungen.

Als Nächstes folgend, beginnt die Betrachtung der Unbeständigkeit sich zu entfalten. Wenn der Meditierende erkennt, wie die fünf Anhäufungen dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind, versteht er, dass diese Kontinuität von Gestaltungen kein "Ich" enthalten kann. Übereinstimmend mit der Betrachtung der Unbeständigkeit wird auch die Betrachtung des Leidens aktiviert. Die Überzeugung dämmert: "Wie können die fünf Anhäufungen, welche nur ein Haufen Leiden sind, 'ich' oder 'mein' sein? Sie sind einfach nur ein Haufen wertloser Abfall, der völlig aufgegeben werden sollte." Auf diese Weise wird die Betrachtung des Nicht-Selbst ebenfalls geschärft, in der allmählichen Abtragung des "Ich"-Konzepts endend. Der Meditierende wird mehr und mehr zum Loslassen geneigt.

Wenn er die Betrachtung des Aufhörens kultiviert, beobachtet der Meditierende wiederholt die Auflösung der fünf Anhäufungen. Dabei werden ihm die in den Gestaltungen enthaltenen Gefahren offenbar und intensivieren seine Betrachtung der Abwendung. Hier vergeht die Gewohnheit, durch das Sichvorstellen der Gestaltungen als "Ich" oder "Mein" Vergnügen (nandi) zu finden, und die Haltung des Loslassens kommt in Schwung. Der Drang, Freiheit von allen Gestaltungen zu erlangen, bekommt im Geist des Meditierenden die Oberhand.

Infolgedessen stirbt die Anhaftung ab, mit welcher man die Sinnesfähigkeiten von Auge, Ohr, Nase, Zunge und Körper - sie liebevoll für ein "Ich" oder "Mein" haltend - genährt hat, endend in ihrer spontanen Aufgabe. Die fünffachen Sinnesfreuden von Form, Geräusch, Geruch, Geschmack und Berührung, welche der Meditierende in selbstsüchtiger Anhaftung genossen hatte, schlafen auch allmählich ein, wenn er sich ihre furchtbare Natur vergegenwärtigt. Wenn das "Ich"-Konzept ausgemerzt ist, erlebt er das allmähliche Schwinden der Befleckungen, die bisher seine Geisteskontinuität geplagt hatten - die Zu- und Abneigungen, das Mögen und Nichtmögen, die Erwartungen, Ansichten, verkehrten Wahrnehmungen und Theorien - und er wird gleichmütig.

So erreicht die Betrachtung der Leidenschaftslosigkeit Reife. Der Meditierende wird bald darauf gleichgültig gegenüber jeder auf seine Sinne treffenden Gestaltung; er erkennt an ihr, dass jedes Sinnesobjekt sogleich vergeht und aufgegeben ist. Er hegt keine Hoffnungen für die Zukunft noch Bedauern über die Vergangenheit11. Sofort und augenblicklich tritt Gelassenheit (heitere Gemütsruhe) ein.

Wenn sein Geist tief konzentriert ist, erfährt der Meditierende die wahre Natur der dreifachen Welt. Gestärkt durch seine gleichmütige Einstellung erlebt er, wie die allumfassenden Gesetze der Unbeständigkeit, des Leidens und des Nicht-Selbst ununterbrochen und universell wirken. Er durchschaut den Fakt, dass das ganze Universum nur ein aus einer wechselseitig bedingten Kombination von Kräften gebildeter Prozess ist, ohne jegliche Wesensart eines Selbst. Es gibt kein "Ich" im Bereich seiner Einsicht, keinen wesentlichen Unterschied zwischen seiner Gruppe von fünf Anhäufungen und der äußeren Welt; keine Abtrennung von "hier" und "dort" und darum nichts zwischen den beiden12. Die Dualität ist ausgelöscht - die Dualität der Wesen, des Daseins, der Orte. Überall und jederzeit gibt es nur Gleichförmigkeit: ein und die selbe Wesensart der Dinge, ein und die selbe Wirklichkeit. Hier, dort und überall ist diese Wirklichkeit so. Diese Wesensart der Dinge war gestern so, ist heute so und wird morgen so sein.

Auf diese Weise realisiert er die "Soheit" (tathatā) - die wirkliche Wesensart der Dinge, die wahre Natur der Phänomene - die so lange hinter dem täuschenden Schleier der Unwissenheit verborgen war13. Respektvoll beugt er sein Haupt vor dieser unveränderlich wahren Natur der Dinge (avitathatā)14; er kommt mit ihr in Übereinstimmung; er läuft nicht dagegen an. Er hält natürlich existierende Phänomene nicht für ein "Ich" oder für "mein", nicht einmal die siebenunddreißig zur Erleuchtung führenden Erfordernisse, die so immens hilfreich für ihn waren15. Auf die selbe Weise wie ein Fluss, dessen anderes Ufer sichtbar ist, durch Aufgeben der Bezeichnung "Fluss" sich mit dem großen Ozean vereinigt, dessen anderes Ufer nicht sichtbar ist, vereinigt sich der Meditierende, durch Aufgeben jedes auf Abtrennung hinzielendem "Ich" oder "Mein", mit dem großen Strom des Dhamma.

Die Vergangenheit ist aufgegeben worden; die Zukunft ist aufgegeben worden. Die Gegenwart betreffend erkennt er, dass sich nur Gestaltungen ereignen. Auch das ist aufgegeben, weil es als unbeständig oder leidvoll oder Nicht-Selbst durchschaut wurde, damit die Kraft der zugrunde liegenden Tendenzen (anusaya)16 schwächend. Nun wird sein Geist ohne Ergreifen irgend einer Gestaltung als Objekt in die Vergegenwärtigung des Nibbāna eingetaucht, was Stufe ohne Anhaftung (anādāna) oder Loslassen des Ergreifens (ādāna-patinissagga) oder Loslassen aller Grundlagen der Existenz (sabb´upadhi-patinissagga) genannt wird17. Gleichzeitig sind auch die von jedem der überweltlichen Pfade auszurottenden Befleckungen für immer total aufgegeben. Folglich sind auch alle Gestaltungen, welche durch diese Befleckungen in der Zukunft produziert worden wären, obwohl noch ungeboren, aufgegeben.

Auf diese Weise erreicht die Betrachtung des Loslassens, die durch das Aufgeben der Gestaltungen in verschiedenen Stadien der Einsichtsmeditation wirksam wird, ihre Vollendung auf der überweltlichen Stufe.

Loslassen durch Aufgeben kann auch als das Aufgeben der von Anhäufungen und Kamma-Gestaltungen begleiteten Befleckungen erklärt werden. Dies ist die Definition, die von den Kommentaren, angeführt vom Visuddhimagga, gegeben wird18. Wenn es als das Aufgeben aller Gestaltungen definiert wird (wie früher in diesem Kapitel besprochen), sind auch Befleckungen, Anhäufungen und karmische Aktionen mit eingeschlossen. Wie auch immer, die Beseitigung der Befleckungen durch Ersetzen durch das Gegenteil geschieht überall auf dem Pfad der Einsichtsmeditation19. Jede soweit beschriebene Betrachtung gibt Befleckungen von irgend einer Art auf. Die Aufmerksamkeit auf das Aufgeben verschiedener Befleckungen und das sich daraus ergebende Orientieren auf das Nibbāna bilden als solche zusammen eine Betrachtung des Loslassens.20

Wie vorher gesagt wurde, geschieht das Aufgeben der Anhäufungen gleichzeitig mit der Beseitigung der Befleckungen durch Ersetzen durch das Gegenteil. Solange auch diese vorläufige Beseitigung der Befleckungen bestehen bleibt, wird von den aufgegebenen Befleckungen kein neues Kamma erzeugt. Solange diese Kammas ungeboren bleiben, werden sie nicht fähig sein, in der Zukunft sich aus ihnen ergebende Anhäufungen zu erzeugen. Darum werden, wenn Befleckungen durch die Ersetzen-durch-das-Gegenteil-Methode beseitigt sind, damit verbundenes Kamma und Anhäufungen auch als aufgegeben angesehen21. Mit anderen Worten, dies ist gleichbedeutend mit Loslassen der "drei Kreisläufe" (tivatta): Die Kreisläufe der Befleckungen, des Kamma und der Kamma-Resultate. Wenn man durch Einsichtserkenntnis klar erkennt, wie diese drei Kreisläufe los gelassen werden, kann das auch als eine Variante der Betrachtung des Loslassens angesehen werden.

Die Betrachtung des Loslassens entfaltet sich allmählich von den Anfangsstufen der Einsichtsmeditation an und erweitert und vertieft sich bei deren Entwicklung. Diese Betrachtung, welche als das sich steigernde Ergebnis der anderen Betrachtungen angesehen werden kann, ist enorm hilfreich, die Einsichtsmeditation erfolgreich zu gestalten. Sie wird extrem kraftvoll in den fortgeschrittenen Stadien der Einsichtsmeditation, besonders beim Wissen vom Wunsch nach Befreiung (muñcitukamyatā-ñāna) und beim Wissen vom Gleichmut gegenüber den Gestaltungen (sankhār´upekkhā-ñāna).22



3. Befreiung vom Ergreifen
Das durch die Betrachtung des Loslassens vernichtete Ergreifen kann beschrieben werden als die Begierde, welche an Gestaltungen als ein "Ich" oder "Mein"23 haftet. Dieser Typ von egoistischem Ergreifen besteht allein wegen der uns innewohnenden Täuschung oder Unwissenheit. Er hindert uns daran, Freiheit vom samsārischen Werden zu erlangen und lässt uns weiter durch den Kreislauf der Existenzen wandern, in welchem wir immenses Leid erdulden. Wie auch immer, das durch Betrachtung erzielte machtvolle Wissen zieht den Schleier der Unwissenheit weg. Das klare Licht der Weisheit dämmert herauf, die wahre Natur der Gestaltungswelt aufdeckend. Der Meditierende realisiert, dass keine Gestaltung irgendein Wesen oder einen Wert besitzt; er erkennt, dass es nichts gibt, was es wert ist, als "Ich" oder "Mein" ergriffen zu werden. Er versteht, dass solche Unterscheidungen und Abgrenzungen keine Gültigkeit haben. Der Fluss der Gestaltungen hält ununterbrochen an, dem Entstehen und Vergehen unterworfen. Der Meditierende wird überzeugt, dass in diesem Fluss kein "Ich" oder eine individuelle Essenz oder irgendein ewiger Kern sein kann. Er erkennt klar, dass die Idee eines "Ich" eine Täuschung, eine Fata Morgana, eine Illusion, ein bloßes Produkt der Vorstellung ist, eine Äfferei der Wahrheit.24

Der Meditierende vergegenwärtigt sich bei einem fruchtlosen Versuch, ein illusorisches "Ich" hervorzubringen und zu erhalten, wie man eine unermessliche Last des Leidens auf sich nimmt. Jede Gestaltung, die im Sinne von "Ich" und "Mein" ergriffen wird, ändert sich und vergeht, und dies endet im Elend. Doch in seiner Blindheit ist man bereit, wiederholt und unbarmherzig danach zu streben, sich an diese flüchtigen Gestaltungen zu klammern, um ein Gefühl von persönlicher Identität aufzubauen. Der Meditierende erkennt auch, wie man von der Feuersbrunst des Leidens verschlungen wird durch Ergreifen geradezu übermäßig leidvoller Befleckungen wie Unwissenheit, Gier, Eigendünkel und Ansichten im Sinne von "Ich" und "Mein". Er fühlt, dass das Ergreifen von Gestaltungen, welchen auch immer, ein schreckliches Hasardspiel ist, ein gewaltiger Fehler, wie das Ergreifen einer massiven, rotglühenden Eisenkugel oder einer tödlichen Schlange.

Mit der Reifung dieser direkten Vergegenwärtigung ist das Ergreifen selbst aufgegeben und die Betrachtung des Loslassens vertieft sich weiter. Das wiederholte Greifen nach Gestaltungen ist eingestellt; das Festhalten ist aufgegeben.

Da sich das Aufgeben der Gestaltungen um das Merkmal des Nicht-Selbst zentriert, scheint die Betrachtung des Loslassens eine Variante der Betrachtung des Nicht-Selbst zu sein. Da das hier vernichtete Ergreifen auf Begehren beruht, beinhaltet es auch ein Element der Betrachtung des Leidens. Jedoch kann die Betrachtung des Loslassens als die Vollendung der drei Basis-Betrachtungen angesehen werden.25

Eine spezielle Art der Betrachtung des Loslassens ist im Dīghanakha-Sutta des Majjhima Nikāya zu finden26. Für Dīghanakha, den Wanderasketen, trug der Buddha zuerst eine Lehrrede vom Aufgeben falscher Ansichten wie Vernichtungsglaube, Ewigkeitsglaube und teilweisem Ewigkeitsglauben vor, so dass Dīghanakha die Vernichtungsansicht ablegen konnte, die er sich vorher zu Eigen gemacht hatte. Mit dem Ziel, seine Anhaftung an den physischen Körper zu beseitigen, lehrte ihn der Buddha als nächstes elf Arten, den Körper zu betrachten:

"Dieser Körper, Aggivessana - welcher materiell ist, zusammengesetzt aus den vier Urelementen, hervorgebracht von Eltern, genährt von Reisbrei und saurer Milch, unterworfen der Unbeständigkeit, der Abnutzung, der Abarbeitung, dem Auseinanderbrechen und Verstreutwerden - sollte als unbeständig, als leidvoll, als Krankheit, als Geschwür, als Stachel, als Ungück, als Betrübnis, als etwas Fremdes, als der Auflösung unterworfen, als leer, als Nicht-Selbst betrachtet werden. Wenn der Körper so betrachtet wird, ist jede Sehnsucht, jede Neigung oder jede Dienlichkeit des Körpers ausgemerzt."

Dann zählte der Meister die drei Gefühle auf - angenehm, schmerzhaft und neutral - zeigte, dass die beiden anderen abwesend sind, wenn eines davon anwesend ist; dadurch hob er die Merkmale der Unbeständigkeit und der Nichtselbstheit hervor. Er erklärte ihm auch, wie Abwendung (nibbidā), Leidenschaftslosigkeit (virāga) und Befreiung (vimutti) realisiert werden können durch das Verstehen, dass alle drei Arten von Gefühl unbeständig und bedingt sind, abhängig entstanden, der Zerstörung, dem Zerfall, dem Vergehen und der Auflösung unterworfen. Am Ende der Predigt wurde Dīghanakha ein Strom-Eingetretener (sotāpanna).

Während diese Lehrrede gehalten wurde, lauschte der Ehrwürdige Sāriputta aufmerksam, während er dem Buddha fächelte. Da fiel ihm ein: "Der Erhabene hat uns gelehrt, die verschiedenen Gestaltungen dadurch aufzugeben, dass man sie vollständig mit Weisheit versteht. Der Wohlbringer sagte uns, wir sollten die verschiedenen Gestaltungen loslassen, indem wir sie klar mit Weisheit verstehen." Während er auf diese Weise nachdachte, wurde der Geist des Ehrwürdigen Sāriputta von den schädlichen Einflüssen befreit und er wurde ein Arahant. Folglich ist es klar, dass bei richtiger Ausrichtung des Geistes auf das Ausmerzen oder das Loslassen der Gestaltungen die Betrachtung des Loslassens in Schwung kommen und in der Realisierung der Arahantschaft gipfeln wird.

Der Meditierende kann laufend viel Trost durch das Loslassen der Gestaltungen einschließlich der Befleckungen erfahren. Durch das Aufsichnehmen der schweren Last der Gestaltungen, die er als "Ich" und "Mein" ergriff, war er bisher ein Sklave der Befleckungen, selig unwissend von seinem wehrlosen Zustand. Aber zuletzt erblickt er die Wahrheit durch Einsichts-Weisheit. Wenn er realisiert, wie er sinnlos unter einer nutzlosen Bürde gelitten hat, wirft er die bedrückende Last der Gestaltungen allmählich ab. Wenn er die teilweise Erleichterung durch das teilweise Ablegen der Last erlebt, wird er erpicht darauf, sich endgültig und total von der ganzen Last zu befreien. Schließlich wirft er die gesamte Last ab und erfährt hier und jetzt große Erleichterung, Frieden, Trost, Ruhe und kühle Gelassenheit - ein Gefühl der Freiheit und des Segens, in Worten nicht ausdrückbar.27

* * *



4. Vorteile der Betrachtung des Loslassens
"Darum, Mönche, was auch immer nicht euer ist, gebt es auf. Es aufzugeben führt zu eurem Wohlsein und Glück für eine lange Zeit."

"Und was ist das, was nicht euer ist? Materielle Gestalt ist nicht euer: gebt sie auf! Sie aufzugeben führt zu eurem Wohlsein und Glück für eine lange Zeit. Gefühl ist nicht euer ... Wahrnehmung ist nicht euer ... Geistige Gestaltungen sind nicht euer ... Bewusstsein ist nicht euer: gebt es auf! Es aufzugeben führt zu eurem Wohlsein und Glück für eine lange Zeit."28



5. Anmerkungen zur Betrachtung des Loslassens


1 Pati + ni + saj.


2 Pm.I,194.


3 Pm.I,87. Siehe auch PmA.24, 211; Vism.T.I,281.


4 "Die Aufgabe von materieller Form ist Loslassen durch Aufgeben (pariccāga-patinissagga). Die Aufgabe von Gefühl ... Wahrnehmung ... geistigen Gestaltungen ... Bewusstsein ... Auge ... Ohr ... Verfall und Tod ist ebenso Loslassen durch Aufgeben" (Pm.I,194). Zum vollständigen Verzeichnis siehe Pm.I,5ff.


5 S.IV,29; Pm.I,27.


6 (I) "Materielle Form erkennend, gibt er sie auf. Das Gefühl erkennend ... Die Wahrnehmung ... Die geistigen Gestaltungen ... Das Bewusstsein ... Das Auge ... Das Ohr ... Verfall und Tod erkennend, gibt er sie auf" (Pm.I,27).

(II) "O Mönche, was es auch immer an Sehnsucht, Sinnesgier, Vergnügen oder Begierde in Beziehung auf materielle Form in euch gibt, gebt es auf; so wird diese Form aufgegeben sein ... Was es auch immer an Sehnsucht ... oder Begierde in Beziehung auf das Bewusstsein in euch gibt, gebt es auf; so wird dieses Bewusstsein aufgegeben sein" (S.III,161).



7 Vism.VIII,236; PmA.347.


8 Nibbāne cittam pakkhandatī ti pakkhandana-patinissaggo (Pm.I,194).


9 Vism.VIII,236; PmA.347.


10 Siehe Vism.T.I,279; DT.74.


11 Siehe M.III,187:

"Lass' keine Person die Vergangenheit wiederbeleben
Oder ihre Hoffnung auf die Zukunft bauen;
Denn die Vergangenheit ist zurückgelassen
Und die Zukunft noch nicht erreicht.
Statt dessen lass' sie mit Einsicht erkennen Jeden im Jetzt aufkommenden Zustand.... "



12 "Es gibt nicht hier noch dort noch dazwischen" (Ud.8).


13 "Was unbeständig ist, ist leidvoll; was leidvoll ist, ist unbeständig. Was unbeständig und leidvoll ist, ist nichtselbst. Was unbeständig, leidvoll und nichtselbst ist - das ist 'so' (tatha). Was unbeständig, leidvoll, nichtselbst und 'so' ist - das ist Wirklichkeit (sacca). Was unbeständig, leidvoll, nichtselbst, 'so' und Wirklichkeit ist - das ist eingeschlossen im Einen (ekasangahita). Was eingeschlossen im Einen ist - das ist Einheit (ekatta)" (Pm.II,106).


14 "Mönche, dies sind die vier Wirklichkeiten (tathāni), nicht Unwirklichkeiten (avitathāni); sie werden nie anders werden (anattathāni). Welche vier? Das Leiden, die Entstehung des Leidens, das Aufhören des Leidens und der zum Aufhören des Leidens führende Pfad" (S.V,430-31; Pm.II,104). Siehe auch die kommentarielle Bemerkung in SA.III,228. Die Begriffe tathatā, avitathatā, anattathā sind auch angeführt worden zur näheren Bestimmung von paticca samuppāda, der bedingten Entstehung in S.II,26.


15 Siehe M.I,135: "Sogar die guten Qualitäten (dhammā) solltet ihr aufgeben, um wieviel mehr erst die schlechten Qualitäten (adhammā)?" MA.II,90 setzt hier die „guten Qualitäten" mit Geistesruhe und Einsicht (samatha-vipassanā) gleich.


16 Siehe Dhp.348:

"Lasst los, was hinter euch liegt, lasst los, was vor euch liegt,
Lasst los, was dazwischen liegt, überwindet das Werden.
Mit einem von allem erlösten Geist
Kommt nicht wieder zu Geburt und Verfall."



17 Siehe Sn.1094, Dhp.89, A.V,110-11 (oben angeführt, Kap. 6, Anm. 9(I) ).


18 Vism.VIII,236; PmA.347, usw.


19 Zum Beispiel: "ānanda, was ist die Wahrnehmung des Aufgebens? Hier ein Mönch ... duldet keinerlei böse unheilsame Zustände, die aufkommen mögen; er gibt sie auf, vertreibt sie, lässt sie los und beendet sie - dies wird die Wahrnehmung des Aufgebens genannt" (A.V,110).

Die Wahrnehmung des Aufgebens (pahāna-saññā) verweist auf das fünffache Aufgeben (AA.I,287), das heißt durch Unterdrückung, Ersetzen durch das Gegenteil, Ausrottung, Abflauen und Befreiung (Pm.I,26: vikkhambhana, tadanga, samuccheda, patippassaddhi, nissarana). Diese fünf Worte werden auf die selbe Weise erklärt, wie die fünf Arten der Leidenschaftslosigkeit und des Aufhörens -siehe Kap.5, Anm.1 und Kap.6, Anm.5. In der Einsichtsmeditation ist das Aufgeben durch Ersetzen durch das Gegenteil zutreffend. In diesem Zusammenhang kann die Wahrnehmung des Aufgebens als vergleichbar mit der Betrachtung des Loslassens angesehen werden. Siehe DA.II,757; AA.II,665.



20 "Er sieht das Aufgeben von Gier und Kummer (in Begierde und Hass wurzelnde Befleckungen) durch seine Weisheit und wird darin ganz gleichmütig" (M.III,84-85; S.V,324, 330-31, 337). Für weitere Erklärungen siehe MA.IV,98 oder SA.III,212.


21 "Einer, der die Befleckungen aufgibt, gibt das darauf beruhende Kamma auf und dadurch die Anhäufungen, welche durch dieses Kamma erzeugt worden wären" (VismT.II,442).


22 (I) "Die Betrachtung des Loslassens ist die Stabilisierung der gedanklichen Vertiefung"(DT.47).

(II) "'Er betrachtet das Loslassen': es sollte verstanden werden, dass dies extrem scharfe Einsicht in Pfadnähe ausdrückt" (PmA.348).

(III) "'Er betrachtet das Loslassen': durch zum Auftauchen führende Einsicht" (PmA.215).




23 Siehe PmA.94; DT.74; Cnd.296.


24 "Ein Selbst und etwas zum Selbst Gehörendes, kann man nicht wirklich und richtig finden" (M.I,138).
25 Im Pm. wird festgestellt, dass die Betrachtung des Loslassens von allen vier Arten des Anhaftens befreit; somit scheint sie eine Verschmelzung aller drei Basis-Betrachtungen zu sein. PmA.393 erklärt, dass die Betrachtung des Loslassens einen durch Aufgeben der Befleckungen von allen Arten des Anhaftens befreit.


26 M.I,477-501.


27 "Einer, der alles losgelassen hat, wird 'Einer im Frieden' genannt" (Sn.946).


28 M.I,140-41; S.III,33. Siehe auch S.IV,80-82, wo die selbe Formel für die sechs Sinnesorgane angewandt wird.




Ñāṇārāma Mahāthera. Die Sieben Betrachtungen der Einsicht. © Theravadanetz.