1.
Lebendige Vipassanā-Praxis und Lebensweise in Bangladesh
2. Vipassanā ohne Dhamma-Grundlage?
3. Vipassanā und Samatha-Meditation
4. Die "Vipassanā-Story"
5. Die Taungpulu-Tradition in Burma
6. Gute Meditation - schlechte Meditation? Richtige - falsche Vipassanā-Technik?
7. Einsichten, Wegstationen und Ziel


Samaneri Agganyani. Gelebte Vipassanā-Praxis. Der Weg der Befreiung durch Einsicht

Herausgeber
Theravadanetzwerk der DBU
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© D.B.U. 2005

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1. Lebendige Vipassanā-Praxis und Lebensweise in Bangladesh
"Achtsamkeit! Bewusstheit!" erschallt die ermahnende Stimme meines Lehrers aus dem Nichts, bzw. aus der Palmenplantage des Meditationszentrums, und ich zucke zusammen und schäme mich: wieder war ich nicht wirklich achtsam und im Hier und Jetzt, ich war wieder nur mechanisch langsam gegangen in der Gehmeditation, aber die Gedanken waren woanders. Wie kann der das bloß merken? Alle meine bisherigen, meist westlichen Lehrer konnte ich bluffen durch automatisches Gehen. Er, mein Lehrer Prajnajyoti Mahāthero aus Bangladesh, sieht es mir schon aus der Entfernung an. Da kann ich nichts vortäuschen oder vorspielen. Es hilft alles nichts: es gibt keine Pause (Pause der Achtsamkeit), ich muss mit aller Kraft praktizieren, d.h. konzentriert achtsam sein. Oftmals wollte ich davonrennen. Wie sehnte ich mich nach wenigstens 5 Minuten Pause, mich hängen zu lassen, gehen zu lassen... Es war nicht erlaubt. Und dasselbe sagte unser Lehrer Pokkoku Sayadaw ins Burma.

Ich habe mittlerweile begriffen, warum, aber nach wie vor ist es schwer und unmöglich, den inneren Schweinehund bzw. Māra nachhaltig zu bezwingen. Dabei sagen alle erfahrenen, realisierten Vipassanā-Meditationsmeister, dass es gar nicht anstrengend sei, dass dies der natürliche Zustand sei, man könne völlig entspannt und wach dabei sein und es sei sehr erholsam, so dass das Schlafbedürfnis abnimmt. Ich habe nicht nur dieses "Gerücht" gehört, sondern ich kenne auch persönlich einige Vipassanā-Meditierende, Mönche, die überhaupt nicht mehr schlafen, sei es für ein paar Tage, für die drei Sommermonate ihres "Vassa" (Regenzeit, die die Theravāda-Mönche traditionell in einem Kloster verbringen und dabei oft intensiver meditieren), oder auch länger. Mein Lehrer Prajnajyoti aus Bangladesh erwartete dies auch von mir. Bei Besprechung des Zeitplans bei Beginn meines Einzelretreats während der Monsunzeit sagte er mir zwar, ich solle "rund um die Uhr" praktizieren, 24 Stunden Vipassanā üben, abwechselnd jeweils eine Stunde Sitzen und eine Stunde Gehen. Ich kam nicht im Entferntesten auf die Idee, dass er dies wörtlich meinen könne. So beendete ich meine formale Meditation abends um 23 Uhr und legte mich achtsam, aber zielstrebig schlafen bis zum Klingeln meines Weckers, den ich auf 4 Uhr gestellt hatte. Kurz nachdem ich das Licht morgens eingeschaltet hatte, kam auch schon aufgelöst mein Lehrer und fragte besorgt, was los sei, ob es mir nicht gut gehe, er habe in der Nacht kein Licht in meinem Raum gesehen, sei alle Stunde um meine Hütte gegangen. Erschreckt und etwas beschämt mußte ich zugeben: "ich habe geschlafen". - "Ach so -", und ein Blick der Bände sprach..., aber schnell hatte er sich wieder in Gleichmut gefangen.

Prajna Bangsa Mahāthero, ein anderer bangladeshischer Mönch und guter Freund in meinem Alter, bisher sehr sozial-engagiert und erfolgreich, praktiziert seit über einem Jahr sehr intensiv unter Anleitung von Bana Bhante, einem weit bekannten und verehrten Waldmönch aus den Chittagong Hilltracts, der es mit verschiedenen Vipassanā-Techniken, asketischen Übungen und für uns Westler schier unglaublicher Disziplin und Härte sehr weit gebracht hat. Auch seine engsten Schüler versucht er zur Duthanga-Praxis (asketische Übungen, wie von Buddha selbst gelehrt und empfohlen) und zum Einschränken und langsamen Aufgeben des Schlafens und statt dessen kontinuierlicher Praxis zu motivieren. Anfangs schrieb mir Prajna Bangsa von dieser Art der Praxis und von seinen Schwierigkeiten, dass er es nicht schaffe, ohne Schlaf auszukommen. Als ich ihn ein Dreivierteljahr später in Bangladesh traf (er hatte eine Sondergenehmigung von seinem strengen Lehrer Bāna Bhante für ein kurzes Treffen mit mir erhalten), sagte er, er habe seit zwei Monaten das Schlafen aufgegeben und es ginge ihm gut, er fühle sich stark und kräftig, vor allem im Geist, aber auch im Körper, wenn dieser auch etwas abgemagert sei durch die Praxis, nur einmal zu essen, was man auf dem morgendlichen Bettelgang erhalten hat. Er wirkte tatsächlich frisch, und jedes Wort, jeder Blick, jede Körperbewegung schien durchdrungen von perfekter, aber müheloser Achtsamkeit, aber auch nicht kalt, abgestumpft oder mechanisch, sondern voller Achtung, Offenheit und Mitgefühl. Im echten Gleichmut ist kein Platz für Hochmut, Stolz und Gefühlskälte.

Für mich ist es sehr wichtig und inspirierend solchen Menschen zu begegnen, zu sehen, was möglich ist, wohin diese Praxis führen kann. Das "live" zu erleben ist für mich immer wieder die größte Motivation auf dem Weg, gleichzeitig werde ich zurückgeholt auf den Boden der Realität, dahin, wo ich selbst gerade erst stehe.

2. Vipassanā ohne Dhamma-Grundlage?
Wie wohl in allen buddhistischen Traditionen sind solche Menschen, die edlen Freunde (Kalyānamittas), wie Buddha selbst zu Ānanda sagt, nicht das halbe, sondern das ganze spirituelle Leben. So sind auch die Kalyānamittas und der Sangha nicht zu vernachlässigen in der Vipassanā-Tradition. Ohne Vorbild, Anleitung und Hilfe bei den mannigfaltigen Erfahrungen, auf den Irrwegen und in den Sackgassen, in die man bei falsch aber auch bei richtig praktizierter Vipassanā-Meditation zweifelsohne gelangen wird, wird es schwierig sein, wirkliche Fortschritte zu machen, wirklich tief zu schauen, zu erkennen, loszulassen.

Noch wichtiger als der Lehrer oder Kalyānamitta ist meiner Ansicht nach der Dhamma, das Verwurzelt- und Zuhause-Sein in der buddhistischen Lehre. Wenn wir die Vipassanā-Meditation praktizieren und nicht nur immer an der Oberfläche bleiben (wollen), werden wir irgendwann, früher oder später, tiefe, erschütternde, alles in Frage stellende Erfahrungen machen. Um in solchen intensivst erlebten "Hochs" oder "Tiefs" nicht stecken zu bleiben, ist ein guter Lehrer sehr hilfreich, um uns klar zu machen, dass dies nur ein Wegzeichen ist, vielleicht ein Zeichen des Fortschritts, aber (und das ist bei den "Highs" sehr wichtig!) noch nicht das Ziel selbst. Eine gute Kenntnis der Lehre und Vertrauen in sie ist meiner Meinung nach mindestens so wichtig, und ich halte es fast schon für gefährlich, wenn Vipassanā hier im Westen ohne buddhistische Grundlagen und frei von jeglichem religiösen oder philosophischen Hintergrund gelehrt wird, sozusagen als reine Achtsamkeitsmeditation. Aber wahrscheinlich hält sich die Gefahr deshalb in Grenzen, weil bei den relativ kurzen Retreats im Westen kaum Tiefe erreicht werden kann. Meiner Beobachtung nach sind die allermeisten Vipassanā-Meditierenden auch nur halbherzig dabei, Motivation, Disziplin und Einsatz sind nicht ausreichend, um über ein bestimmtes Maß an Konzentration und Gewahr-Sein hinauszugelangen, so dass es im Allgemeinen gar nicht zu so existenziellen Erlebnissen und Erfahrungen kommen kann, mit denen man dann Probleme haben könnte, die das Weltbild und Ego erschüttern könnten und einem den Boden unter den Füßen wegziehen könnten.

3. Vipassanā und Samatha-Meditation
Vipassanā-Meditation, Einsichts-, Erkenntnis- oder Klarblicksmeditation auf Deutsch genannt, ist die typisch buddhistische Art der Meditation, die der Buddha selbst herausfand, praktizierte und lehrte (zumindest dem Pāḷi-Kanon der Theravādins zufolge). Die Samatha-Meditation, die "nur" auf Geistesruhe, Konzentration und Versenkungen ausgeht, ist in verschiedenen Religionen und Kulturkreisen zu Hause und war auch schon längst zu Buddhas Lebzeiten in Indien bekannt. Der Buddha allerdings fand heraus, dass diese Art der Meditation allein nicht genügt, um Leiden dauerhaft zu transformieren, transzendieren, zu überwinden und zu beenden. Inwiefern die Samatha-Meditation und die Erreichung der jhānas (meditativen Versenkungszustände) aber notwendig ist und eine Voraussetzung für die erfolgreiche Vipassanā-Meditation, ist umstritten und wird in der buddhistischen Welt selbst von den höchsten Gelehrten und Meditationsmeistern heftig diskutiert. Tatsache ist, dass zumindest eine sogenannte "Zugangssammlung", ein gewisses Mindestmaß an Konzentration und unzerstreuter Aufmerksamkeit für die Vipassanā-Meditation notwendig ist. Für jhāna-Spezialisten: diese Zugangssammlung wird beim Durchlaufen der nimittas (Bilder) nach Erreichen des Gegenbildes erlangt, bevor der Meditierende die erste Vertiefung erreicht. Vor allem in asiatischen Klöstern wird häufig die sogenannte "Samatha-Vipassanā-Meditation" gelehrt, d.h. die Erlangung von Einsicht durch (erfolgreiches) Praktizieren der jhānas und damit tiefste Beruhigung und Klärung des Geistes. Die reine Vipassanā-Meditation, ohne tiefe Versenkungszustände, wurde angeblich auch schon von Buddha gelehrt und erlebt in jüngster Zeit eine Renaissance.

4. Die "Vipassanā-Story"
(in diesem Abschnitt wurde viel "gespickt" bei Fred von Allmen - einer seiner Vorträge, die es auf Kassette gibt, trägt diesen Titel)
Dr. Rewatta Dhamma Sayadaw, ein burmesischer Mönch, Gelehrter und Meditationsmeister, der seit etwa 30 Jahren in England lebt, weiß von einer uralten Prophezeiung in Burma zu berichten: der 2500. Geburtstag des Buddhismus, das ist das Jahr 1956, sei die Schwelle zum "Vimutti-Yoga", zu einem neuen Zeitalter der Befreiung, in dem es wieder Arahats, d.h. vollständig erleuchtete Menschen geben werde. Aufgrund dieser Weissagung und dem innigen Glauben der Burmesen begannen bereits um die Jahrhundertwende wieder mehr und mehr Menschen, Gewicht auf die Praxis derVipassanā-Meditation zu legen, so dass 1956 die Vipassanā-Meditation bereits zu einer wichtigen Beschäftigung der Menschen geworden war. Noch heute trifft man in Burma viele Menschen, Mönche, Nonnen und Laien in und um die Tempel wirklich beim Meditieren an, wo sie still in Nischen, in den Hallen oder auf offenen Plätzen sitzen. So hat sich die große Weissagung wohl bestätigt und einer der ersten Vipassanā-Vertreter war denn Ledi Sayadaw noch vor Ende des letzten Jahrhunderts. Nach ihm entwickeltensich zwei Hauptzweige in Burma. Ein Zweig wurde vertreten von Ledi Sayadaws Laienschüler Sayatep, dessen Schüler U Bha Khin und in jüngster Zeit und heute vorwiegend von dessen indischem Schüler S. N. Goenka, der diese Art der Vipassanā-Meditation, "Sweeping" (Fegen) genannt, hauptsächlich in Indien, in Europa und den USA bekannt machte. In dieser Tradition handelt es sich ausschließlich um Laienlehrer, also keine Mönche, was für Asien und den Theravāda außergewöhnlich war. Der zweite, im buddhistischen Asien wesentlich weiter verbreitete Zweig geht zurück auf Mingun Sayadaw, auch U Nārada genannt. Von ihm wiederum ausgehend entwickelten sich an die 16 Vipassanā-Meditationsschulen in Burma. Mahāsi Sayadaw wurde der bekannteste Vertreter dieser Tradition, wohl auch durch den Vorteil, dass er und seine Zentren, sofortnach der Unabhängigkeitserklärung Burmas 1948 von der burmesischen Regierung gefördert wurden. Viele der anderen Schulen gerieten deshalb wieder mehr in Vergessenheit oder existieren nur noch versteckt im Kleinen weiter, während Mahāsis Zentren (und die seiner Schüler) wuchsen und seine Lehrtradition und Praxis sich in den buddhistischen Ländern ganz Süd- und Südostasiens ausbreiten konnte, in jünge Zeit auch im Westen, speziell in den USA.

Eine der anderen 16 Schulen wurde von Taungpulu Sayadaw, ebenfalls einem direkten Schüler von Mingun Sayadaw gegründet und inspiriert. Taungpulu hatte 33 Jahre in einer Höhle meditiert - erst dann begann er Dhamma und Meditation zu lehren (das sollten sich mal ein paar ungeduldige und vorschnelle westliche Lehrer bzw. Lehrwillige zu Herzen nehmen!). Diese Tradition ist noch lebendig und zugänglich in Burma selbst und in einigen westlichen Ländern, allen voran den USA. Da ich in dieser Tradition wieder mehr eigene Erfahrungen habe, möchte ich näher darauf eingehen.

5. Die Taungpulu-Tradition in Burma
Im Gegensatz zu den meisten Meditationslehrern, auch den allermeisten Vipassanā-Lehrern, empfiehlt Taungpulu Sayadaw und Pokkoku Sayadaw (einer seiner Hauptschüler und heutigen Vertreter) nicht die Atmung als primäres Meditationsobjekt. Im Retreat im einsamen Waldkloster Kyauksen bei Meiktila in Mittelburma, in unmittelbarer Nachbarschaft von Taungpulus Hauptkloster (das nach seinem Tod jedoch etwas verwaist wirkt), lehrt uns Pokkoku Sayadaw zuerst das Gewahr-Sein aufs Hören, nur mit der jeweils augenblicklichen Erfahrung des Hörens in Kontakt zu sein. Nach einigen Tagen folgt das Sitzen. Wir müssen wirklich wissen, dass wir sitzen und wie wir sitzen, visualisieren unseres sitzenden Körpers, spüren der Sitzposition. Wieder nach einigen Tagen des Übens und Berichtens kommt die Berührung dran, ganz in Kontakt sein mit der Erfahrung des Berührens, Berührung wirklich von Moment zu Moment erleben. Als besonders geeignet für das Gewahr-Sein der Berührung werden die beiden Sitzhöker, das Steißbein oder überhaupt der "Allerwerteste" gelehrt, oder auch die Berührung der Hände, speziell der Daumenspitzen (bei Ajahn Thong, der in der Mahāsi-Tradition lehrt, gibt es sogar 28 fest definierter Berührungspunkte, die in einer streng vorgegebenen Reihenfolge zu durchlaufen sind). Dann erfolgt eine Kombination z.B. der beiden Meditationsobjekte "sitzen - berühren", indem man abwechselnd seine volle Aufmerksamkeit auf diese Erfahrung richtet. Genau dies war auch die Meditationstechnik gewesen, der ich in Bangladesh begegnet war, allerdings war sie dort in Kombination mit dem Atem gelehrt worden (einatmend: sitzen, ausatmend: berühren), was Pokkoku Sayadaw genau ablehnte. Für mich war es hoffnungslos, denn ich schaffte es während unseres ganzen Meditationsaufenthalts nicht, bei diesem absichtlich wechselndem Gewahr-Sein vom Rhythmus des Atems wegzukommen, was ich mir so sehr angewöhnt hatte. Dafür hatte ich reichlich Gelegenheit Ärger, Verunsicherung und Zweifel bei mir zu beobachten, wie er kommt und geht, wie er sich anfühlt und äußert, was seine Bedingungen sind und was wiederum er bewirkt. Abgeschweift von der Meditation? Hindernisse, Hemmungen? Schlechte Meditation? Weit gefehlt!


6. Gute Meditation - schlechte Meditation? Richtige - falsche Vipassanā-Technik?
In der Vipassanā-Meditation gibt es im Gegensatz zur Samatha-Meditation keine Hindernisse, diese, sowie alles andere, was auftritt, wird in die Praxis integriert und ist vorübergehend das Meditationsobjekt, eben das "sekundäre" Meditationsobjekt, solange diese Erfahrung vordergründig ist und unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eigentlich ist es deshalb nicht von großer Bedeutung, was wir als primäres Meditationsobjekt verwenden, da es immer nur um die Qualität und Intensität des augenblicklichen Erlebens geht. Wir können tiefste Einsichten und Erkenntnisse erlangen, egal ob wir den Atem als Meditationsobjekt wählen, und ob wir ihn an der Nasenspitze beobachten (wie z.B. U Bha Khin und Goenka), an der Bewegung der Bauchdecke (wie Mahāsi) oder des Brustkorbs, ob wir achtsam und bewusst sind aufs Sitzen und/oder Berühren, aufs Stehen, Gehen, Liegen, aufs Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Denken, auf unsere innere Unruhe, unsere Gier oder Aversion... - wir sollen nur immer voll und ganz, mit ungeteilter Aufmerksamkeit, bei dieser Sache sein, nicht urteilen, beurteilen, verurteilen (und wenn, dann wenigstens bemerken!). Wie das theoretisch geht und welche Möglichkeiten der Achtsamkeit es gibt, lehrt das vielzitierte Mahā-Satipaṭṭhāna-Sutta (M10, D22), auf das ich hier nicht näher eingehen möchte (das tun bereits andere Autoren).


Wie all meine Vipassanā-Lehrer betonen, ist es die Kontinuität des Gewahr-Seins, die für die Erkenntnis wichtig ist. Jeder Moment ist bedeutsam, wir sollten nicht den kleinsten Moment verpassen, bewusst wahrzunehmen, zu registrieren und zu akzeptieren, was gerade ist. Das bedeutet, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind. Und dazu ist es nicht unbedingt notwendig, alle Erlebnisse, alle kurzfristigen Objekte des Gewahr-Seins zu benennen, wie es in vielen Traditionen üblich ist. Anfangs fand ich diese Methode des geistigen Benennens oder Etikettierens sehr hilfreich, um mir meiner Sinneseindrücke und Erfahrungen wirklich bewusst zu werden und mich nicht dauernd in Gedanken und Träumereien zu verlieren. Da gibt es Techniken, wo man z.B. das Gehörte kurz benennt als "Hören " oder "Geräusch", sofort wieder loslässt oder abschneidet, und die Aufmerksamkeit wieder auf das primäre Meditationsobjekt lenkt. Andere Techniken scheinen fast schon ritualisiert, da man alle Erfahrungen exakt dreimal benennt oder Schritte in der Gehmeditation je nach Vorschrift genau in 1, 2, 3...oder 6 Teile zerlegt. Bei einem Geräusch z.B. sagt man sich dreimal geistig "hören-hören-hören" und geht dann zurück zum primären Meditationsobjekt. Falls das Geräusch bei der Gehmeditation auftritt, bleibt man stehen. Eine mir bekannte Schule geht sogar soweit, dass man dann zuerst das "stehen-stehen-stehen" registriert und akzeptiert, dann erst das aufgetretene Geräusch mit "hören-hören-hören", was mir schon nicht mehr stimmig erscheint.


Nun gut, alle Techniken sind Hilfsmittel, und sollten nicht überstrapaziert werden. Andere Traditionen registrieren und benennen das sekundäre Meditationsobjekt solange, bis es verschwindet - das kann z.B. das Ende des Geräusches sein, oder es wird durch einen anderen, stärkeren Sinneseindruck (z.B. Schmerzen) überlagert, der jetzt in den Vor-dergrund rückt und zum Meditationsobjekt wird, oder das Geräusch langweilt unseren Geist einfach, er verliert sein Interesse daran und lässt los. Das mögen 2 Benennungen sein, 10 oder 50, ganz egal, aber wenn wir achtsam sind, ist es immer ein Erlebnis von anicca, der Vergänglichkeit. Diese Methode habe ich längere Zeit praktiziert und als sehr effektiv befunden. Bis ich mich immer öfter fand, wie ich über einen passenden deutschen Begriff für das Erlebte nachdachte, sinnierte und mich verlor und damit die Erfahrung selbst oder zumindest deren Veränderung übersah oder gar verpasste. Deshalb ziehe ich heute eine Vipassanā-Meditation ohne Benennen vor, so wie es auch von etlichen Meditationslehrern gelehrt und empfohlen wird. Das bedeutet, man kann sehr wohl registrieren, mitkriegen, bewusst erleben und bewusst akzeptieren was immer gerade ist und ins Bewusstsein kommt, aber man vergibt keine Namen, sondern gibt sich kurzzeitig ganz dem Erleben hin, wendet sich mit ungeteiltem Interesse liebevoll jeder einzelnen Erfahrung zu.


Wie ich speziell in Bangladesh gelehrt und gedrillt wurde, bezieht man wirklich alles in die Meditation ein. Im Retreat verlangsamtes, total achtsames Bewegen, Gehen, Ändern der Position usw.. Bei der "Essensmeditation" lerne ich, endlich mal bewusst mitzukriegen, was Essen wirklich bedeutet, was da alles abläuft, was dazu alles nötig ist und getan werden muss. Meist geht es schon los mit Erlebnissen wie Hören, Sehen, Riechen, Denken, oder mit Gier, mit der Absicht, dann vielleicht mit dem exakten, vollbewussten Bewegen der Hand, die zum Löffel greift, usw. - ein langer, erlebnisreicher Weg, bis es erstmal zum wirklichen Essen kommt, zum Schmecken, Kauen, Schlucken und Vielem mehr. Jede Tätigkeit, selbst der Gang zur Toilette und das "Geschäft" erledigen dort kann sehr interessant werden und uns Einsichten vermitteln. Die 1. Grundlage des Satipaṭṭhāna-Suttas, die Achtsamkeit auf den Körper, wird sicher am Häufigsten gelehrt und praktiziert, denn der Körper, ob Atmung, Körperhaltung, Berührung oder Bewegung ist relativ langsam und mit einiger Übung deutlich wahrzunehmen, während Gefühle und - noch schlimmer - Gedanken und Geisteszustände sehr schnell, flüchtig und kurzlebig sind. Es ist gar nicht so einfach "mit dem Geist den Geist zu beobachten", ohne sich darin zu verlieren und zu verstricken. Alle Vipassanā-Schulen, soweit mir bekannt, betonen aber letztendlich alle vier Bereiche der Achtsamkeit. Trotzdem: die wesentlichen Einsichten und Erkenntnisse, um die es geht, sind auch bereits im Körperlichen zu machen.


7. Einsichten, Wegstationen und Ziel
Um welche Erkenntnisse geht's denn eigentlich? Nun, in Worte fassen und intellektuell verstehen kann man sie relativ leicht - aber diese Art von Kopfwissen hat wenig wert und verändert uns nicht. Dagegen gilt es, eigene, tief-erlebte Erfahrungen zu machen und daraus Einsichten zu erlangen, die dann wirklich eine transformierende Wirkung besitzen, uns verändern und unsere Sicht der Dinge und Phänomene. Es gilt, kurz gesagt, die drei Daseinsmerkmale in allem zu sehen: anicca (Vergänglichkeit, Unbeständigkeit), dukkha (Leidhaftigkeit, das Unbefriedigende) und anattā (Nicht-Ich, Substanzlosigkeit). Den Schriften nach heißt es, es reiche aus, nur eines dieser Merkmale vollkommen zu durch-schauen, die anderen ergäben sich dann automatisch. Die Theravāda-Schulen legen be-sonderes Schwergewicht auf das Schauen und Erkennen von anicca immer und überall. Im Mahāyāna scheint man meines Wissens nach mehr auf die Erkenntnis von anattā bzw. suññatā (Pāḷi: Leerheit) wert zu legen. Ich selbst erlebe seit Jahren vor allem die dukkha-Eigenschaft sehr intensiv und arbeite damit. In jedem Phänomen, in jedem Ge-fühl, in jeder Tat, jedem Wort, jedem Gedanken und selbst in jeder Freude lässt sich das letztlich Unbefriedigende, Frustrierende, Enttäuschende, Leidvolle und Leiden-Schaffende sehen und damit kann die Identifikation, das Anhaften, das Begehren und die Wünsche aufgegeben werden; Loslassen wird möglich. Leidvolle Enttäuschung führt zur Ent-Täuschung und damit zu mehr Klarblick. Gerade indem wir unserer ganzen Reaktionsme-chanismen, Angewohnheiten und Teufelskreise bewusst werden, wie wir immer wieder Leiden schaffen, können wir uns ent-konditionieren, d.h. im Idealfall alte Muster und al-tes Karma auflösen, ohne ein anderes, neues Karma zu schaffen (oder wenigstens "posi-tives", heilsames Karma), ohne uns wieder in andere Abhängigkeiten zu begeben, uns andere Verhaltensmuster anzugewöhnen. Dies hieße, schnurstraks auf das Ziel, die end-gültige Befreiung und Erlöschung zuzugehen.

Dieser Weg wird z.B. ausführlichst im Visuddhimagga in den 7 Stufen der Reinheit be-schrieben. Interessant und wichtig erscheint mir allerdings schon die 1. Stufe: Sittlichkeit (sīla). Sittlichkeit stellt somit eine wichtige und notwendige Voraussetzung dar, ohne die gar nichts geht. Die ethische Integrität als Grundlage möchte ich so manchem, speziell westlichem Vipassanā-Praktizierenden und -Lehrendem ans Herz legen - leider erlebt man immer wieder, dass diese Stufe übersprungen wird, belächelt wird und vorschnell geglaubt wird, man verhalte sich sowieso ethisch, da gäbe es für einen nichts mehr an-zuschauen, zu hinterfragen, zu tun. Oder - noch schlimmer - es heißt, realisierte und erleuchtete Menschen bräuchten sich nicht mehr moralisch und ethisch verhalten - zu-mindest aus der Theravāda-Tradition ein schwerer Trugschluß!

Die meisten asiatischen Vipassanā-Lehrer, Mahāsi Sayadaw und auch alle meine asiati-schen Lehrer, legen viel wert auf das Erkennen und klare Unterscheiden von nāma (Geis-tiges) und rūpa (Körperliches), überall und in jedem Phänomen. Könne man dies voll-kommen erkennen und von den Verhaftungen und falschen Vorstellungen beider loslas-sen, so könne man den paṭiccasamuppāda, die Kette des bedingten Entstehens, an die-ser Stelle durchbrechen und aus dem saṃsārischen Daseinskreislauf entkommen. Sicher ein interessanter Aspekt, in seiner ganzen Tiefe schwer nachzuvollziehen, es sei denn man steigt tief in den Abhidhamma ein, theoretisch und praktisch, was einige, fast aus-schließlich asiatische Lehrer und Schüler auch wirklich tun.


Gut verbinden lässt sich die Vipassanā-Meditation auch mit Kāyāgatasati, der Meditation auf die 32 Bestandteile des Körpers (wird z.B. in der Taungpulu-Tradition und auch von meinem Lehrer Prajnajyoti in Bangladesh ausführlich gelehrt und praktiziert), mit der Betrachtung über den Tod oder der Leichen(feld)betrachtung, mit Ānāpānasati, der Be-trachtung der Atmung, was sehr häufig auch im Westen gelehrt wird, mit der Analyse der 4 Elemente, aber auch mit den Brahmavihāras, speziell mit mettā und upekkhā, denn es gilt ja, sich allen Erfahrungen liebevoll zuzuwenden, alle zu akzeptieren, unterschiedslos und mit Gleichmut zu reagieren oder eben nicht zu reagieren und nicht aus dem Gleich-gewicht bringen zu lassen, geduldig und unerschütterlich zu sein. Die genannten Medita-tionen können die reine Vipassanā-Meditation sehr effektiv ergänzen und bereichern, allerdings sollte ein erfahrener Lehrer die jeweils geeignete Übung entsprechend dem Naturell und der Verfassung des Schülers geben, was leider oft zu wenig berücksichtigt wird oder auch natürlich bei Massenkursen unmöglich ist. Ich hatte oft das Glück, bei einem Retreat in Asien die einzige Schülerin zu sein oder den Lehrer nur mit wenigen Mitmeditierenden teilen zu müssen, entsprechend intensiv war die Zeit und es konnte gezielt auf mich und meinen Stand eingegangen werden. Trotzdem gab es Lehrer und Situationen, in denen ich mit meinem westlich-aufklärerischen, emanzipierten und per-fektionistischen Naturell nicht verstanden wurde und wohl eine "falsche" Zusatzübung gegeben wurde. Gerade diese in meiner Situation für mich ungeeigneten Meditations-übungen ermöglichten mir allerdings auch wieder ein tiefes Erleben und Verstehen von dukkha. So kann die Vipassanā-Meditation zu einem harten Weg werden, bei dem die Motivation, die Ausdauer und das Vertrauen in Buddha, Dhamma, Sangha und sich selbst auf eine harte Probe gestellt wird. Aber Durchhalten und Weitermachen lohnt sich...

"Nibbāna ist nicht weit entfernt, nibbāna ist ganz nah bei dir", sagte mit strahlenden Au-gen die 85-jährige bangladeshische Meditationslehrerin Ma Babuler Sadhuma, bei der ich mein jüngstes Retreat in Bangladesh absolvierte. Und ich empfinde: sie hat es realisiert oder ist zumindest ganz nah dran, hat aus eigener Anschauung die Vipassanā-Weisheit erreicht. "Sotapanna, sakadāgāmi, anāgāmi, arahat - nibbāhn -!" (Stromeingetretener, Einmalwiederkehrer, Niewiederkehrer, vollkommen Heiliger - Befreiung/Erlöschen -!) ruft sie mit sich erhebender Stimme und reckt die Arme hoch in die Luft (als Westler würde ich sagen: gen Himmel), wohl wissend, dass nibbāna nicht dort außen ist, sondern in uns selbst verwirklicht und erkannt werden kann durch Klarblick und Einsicht, "Vipassanā" eben.